Samstag, 1. Mai 2021

1. Mai 2021 - Kurzgeschichte in 2 Teilen: 2. Teil: Der alte Mann und (s)ein Hund


 2. Teil der Kurzgeschichte:
Der alte Mann und (s)ein Hund



Wem gehört der Hund?

In dieser Nacht konnte John keinen Schlaf finden, denn sehr zu seinem eigenen Erstaunen plagte ihn das schlechte Gewissen. Ein freundliches Lebewesen war ihm tagelang gefolgt, als gehöre es zu ihm, und er hatte es achtlos wie eine beliebige Fundsache in der Tierarztpraxis zurückgelassen. Dass Mutter und Tochter Musebrink und Fengler sich um das Tier kümmern würden, stand außer Frage - insoweit konnte er Menschen durchaus einschätzen. Immerhin hätten beide auch die falschen Berufe, wenn sie den Hund einfach wieder auf der Straße aussetzen würden.

Vielmehr plagten ihn Gedanken, die sich entschieden gegen sein egoistisches Handeln richteten. Ich bin wie ich bin, rechtfertigte er sich vor sich selber, ich bin 75 Jahre alt und werde mich nicht mehr ändern.

Das liebe Gesicht des Hundes ging ihm trotzdem nicht aus dem Sinn. Er selber hatte sich nie als einsam empfunden. Er war allein, das stimmte, aber niemals einsam. Aber konnte er eventuell diese beiden Begriffe überhaupt nicht mehr auseinanderhalten? Und ... war der Hund einsam und wollte seine Einsamkeit nicht akzeptieren?

Widerwillig machte John sich auf den erneuten Weg zu der Tierarztpraxis. Die war noch gar nicht geöffnet, und er nahm auf der Bank im Garten vor der Praxis Platz. Noch war Zeit, sich wieder aus dem Staub zu machen. Was gingen ihn ein fremder Streuner oder die Tierärztin und ihre Mutter an. Sollten die beiden Frauen von ihm denken, was sie wollten ... er würde sie ohnehin nie wiedersehen.

Gerade in dem Moment, als er zögernd wieder nach Hause gehen wollte, kam Sabine Fengler um die Ecke zum Eingang der Praxis. An einer Leine vor ihr her lief der Hund, den er gestern hier zurück gelassen hatte.

"Gut, dass Sie hier sind", sagte die Frau. Der Hund zog kräftig an der Leine, die sie in der Hand hielt, um schnell zu John zu gelangen. Sabine ließ die Leine fallen, und der Streuner sprang seinen wohl "auserwählten Menschen", John, an.

"Sie sehen es", meinte Sabine, "er mag Sie sehr. Ich habe es noch nie erlebt, dass ein Hund sich sein Herrchen derart nachdrücklich selber aussucht. Das reden sich die meisten Leute nur ein, aber hier sehe ich erstmals, dass es wirklich stimmt: er hat sie ausgesucht."

John brummte: "Ich bin ja nicht mal besonders tierlieb."

"Für einen einzigen Hund wird das schon reichen", meinte Sabine.


Der Hunde-Besitzer wird gefunden

Eine halbe Stunde später wusste Katja Musebrink aufgrund einer Nachfrage, dass der Hund "Eddie" hieß und eine Besitzerin hatte.

"Eddie", brummte John wieder, "also, das passt aber nicht."

Sabine lächelte. Wenn John der Name nicht gefiel, dann war er auf dem besten Wege, dass der Hund ihm gefiel ...

Aber natürlich lief das nicht so einfach ab, denn nun mussten Eddies Besitzer kontaktiert werden. Resolut legte Sabine John die Leine in die Hand und bat ihn, eine Stunde mit dem Hund spazieren zu gehen. Sie wollte sich inzwischen mit dem Halter von Eddie in Verbindung setzen.

John nahm, immer noch widerwillig, die Leine  und ging auf einen Spaziergang mit dem nun nicht mehr namenlosen Hund Eddie in Richtung eines Parks.

Eddie genoss sichtlich die Zweisamkeit mit John und kasperte an der Leine herum. Das führte dazu, dass John sich ein minimales Lächeln abzwingen konnte. Aber er drohte dem neuen Freund bereits, denn: "Du wirst gleich abgeholt. Vermutlich bist du deinen Leuten ausgebüxt."

Der Hund aber lebt dem Augenblick und nicht den vielleicht drohenden Unbillen des Lebens, die im nächsten Moment diesen Augenblick bereits zu einer steilen Auffahrt Richtung Unglück ebnen.

John aber konnte es drehen und wenden wie er wollte, er hatte Freude, mit Eddie durch den Park zu laufen. Und je näher die Rückkehr in die Praxis rückte, um so stärker wurden seine Bauchschmerzen ... das kannte John nicht, er hatte niemals gefürchtet, etwas zu verlieren. Der letzte große Schmerz war der Tod seiner Eltern vor so vielen Jahren gewesen. Dies hier war eine Episode, der Hund war eine Episode. Er hatte ein Zuhause und dahin würde er schnellstens zurückgebracht werden.

Trotzdem zog sich sein Magen zusammen.

Unterdessen hatten Sabine und ihre Tochter Gewissheit über das bisherige Leben von Eddie erhalten., u

Sabine setzte sich mit John auf die Bank vor der Praxis, Eddie war natürlich auch dabei. John dachte für einen Moment, dass sein Herz vor Aufregung schneller schlug ... aber das musste wohl Einbildung sein, beruhigte er sich. Er war es nicht gewohnt, mit Menschen zu kommunizieren, und das war es wohl, was ihn irritierte.

"Eddie hat einem alten Mann gehört, der sich schon länger nicht mehr um ihn kümmern konnte. Dann ist der Mann verstorben, und der Hund kam zunächst, und das war und ist bis heute eine Übergangslösung, zu seiner Tochter. Die Tochter will Eddie nicht zurück haben, oder wenn, dann bringt sie ihn dort hin, wo sie ihn auch letzte Woche hinbringen wollte, als er ausgerissen ist ... ins Tierheim. Eddie ist also herrenlos."

Sollte John nun erleichtert sein oder sich belastet fühlen? Ihm war klar, dass diese nette ältere Dame von ihm erwartete, dass er dem Hund ein neues Zuhause geben würde. Immerhin war er nach seiner gestrigen Flucht heute auch wieder zurückgekommen.

John blickte auf Eddie, Eddies Blick hing an John, und seine Augen flehten und becircten auf eine Art, wie nur Hunde es können ...


Drei Wochen später

Sabine hatte John eindringlich um eine etwa dreiwöchige Probezeit gebeten, in der er sehen sollte, ob es zwischen ihm und dem Hund passen könnte ... John fühlte sich von zwei Lebewesen gleichzeitig in die Enge gedrängt. Jahrzehntelang war er als Einzelgänger prächtig durch die Welt gekommen, und nun sollte er sich um einen fremden Hund kümmern - und auf den Rat einer fremden Frau hören. Es war schon eine ganze Menge, was man ihm abforderte.

Drei Wochen später wartete er wie zuvor auf den Bank, dass Sabine um die Ecke kam, die stets als erste die Praxis betrat und für ihre Tochter alles vorbereitete. Neben ihm lag der Hund zufrieden auf dem Boden.

"Er heißt jetzt Charles", sagte John anstelle eines Guten-Morgen-Grußes. Sabine lächelte: "Ja, Charles passt viel besser als Eddie."

"Charles hieß mein Vater", erzählte er, und stellte gleichzeitig fest, dass er gerade mehr redete, als er in den letzten 50 Jahren an Privatem erzählt hatte, und dass es vielleicht mit seinem Einsiedlerleben

kein gutes Ende nehmen würde.

"Charles und ich verstehen uns hervorragend, wir sind ein Team, und jeden Tag stundenlang in der Natur unterwegs ... aber ich bin hundeunerfahren ... ich weiß nicht, ob ich alles richtig mache ..."

"Charles wird Ihnen zeigen, was Sie wissen müssen", erwiderte Sabine, "er hat sich instinktsicher den richtigen Partner auf zwei Beinen ausgesucht. Und für alle Fälle werden meine Tochter und ich Ihnen gern zur Seite stehen, falls Sie es wünschen. Natürlich in diesem Fall kostenlos, was auch eventuelle Behandlungen betrifft, das sind wir Charles schuldig. Er hat uns nämlich gezeigt, dass es wirklich Hunde gibt, die sich "ihren Menschen" selber aussuchen."

Und John wusste nicht, wie ihm geschah, denn nun war er nicht nur auf den Hund gekommen, sondern auf gemeinsamen Spaziergängen mit Sabine

bahnte sich auch noch sehr langsam und vorsichtig etwas an, das John nie gekannt hatte.


ENDE
Copyright (wie alle meine Beiträge) Silvia Gehrmann 




2 Kommentare:

  1. Liebe Silvia, diese nette Geschichte hat mich sehr berührt, vielen Dank dafür. Ich hatte zuletzt einen ShiTzu, der leider von der Nachbarin totgefahren wurd, kann mir aber keinen Hund mehr nehmen, da ich ihm durch die Beschwerlichkeiten des Alters nicht mehr gerecht werden könnte (84 J.) Ich wünsche Dir von Herzen, dass Du auch wieder von einem Hund ausgesucht wirst. Alles Liebe

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Danke für deinen lieben (und auch traurigen) Kommentar. Es wird schwer sein, einen Verlust zu ertragen, der so sehr unnötig war. Liebe Grüße, Silvia

      Löschen