Vater, Mutter, drei Kinder und deren Oma und Opa feiern gemeinsam den Heiligabend. Die ältesten Familienmitglieder sind stolz, auch online den Anschluss nicht verpasst zu haben. Regelmäßig berichten sie in den sozialen Netzwerken von ihren schönen Urlaubsreisen - und stehen somit ihren Kindern und Enkeln in nichts nach.
Die sind ebenfalls absolut aktiv und vernarrt in die Online-Welt. Kaum ein Ereignis bleibt ungepostet, denn manche Erlebnisse werden doppelt so schön, wenn man sie mit aller Welt teilen kann.
Doch heute ist Heiligabend, und der Vater steht erst einmal in der Küche. Neben einem dicken fetten Gänsebraten (die Gans wurde lange vorher beim lokalen Bauern bestellt, auch das Abholen wurde fotografisch dokumentiert - und ist fürs nächste Jahr, wenn die Gans wieder beim Discounter gekauft wird, recyclebar) gibt es selbst geköchelten Rotkohl und Birnen mit Preiselbeeren.
Während er seine Gans ständig begießt, wird jeder Schritt des Werdens in Fotos festgehalten. So nimmt sie langsam Farbe an,
und die siebenköpfige Familie sitzt samt ihren sieben Smartphones am Tisch. Die Vorspeise in Form einer Terrine von buntem Gemüse und irgendwas - für den Koch und Vater war die Hauptsache, dass es etwas Fotogenes ist. Und da geht bunt ja immer. Er muss noch lernen, die Fotos durch Bearbeitung unnatürlich knallbunt zu machen, das kann er noch nicht ... und das ärgert ihn.
Der jüngste Sohn spielt schnell ein Ballergame, während seine Schwester einer Influencerin gleichzeitig ein Like gibt ... und für ein selbst fabriziertes, aber unbeholfenes Gedicht einer Mitschülerin den Daumen nach unten drückt.
Die Mutter macht ihr 35. Selfie an diesem Tag, nachdem sie sich dafür zwanzig Mal umgezogen hat. Aber auch sie sitzt nun vor dem Gänsebraten,
der zuviel Farbe abbekommen hat als wäre er noch schnell unter der Sonnenbank gewesen, um auch der Online-Welt einen wirklich tollen Eindruck zu präsentieren.
Die Familien-Oma hält dem Familien-Opa ihre Schokoladenseite hin, damit er sie in all dem Glanz des Heiligabends ablichten kann.
Heimlich schielt er schnell auf die Instagram-Seite eines seiner Lieblings-Busen-Models - und drückt seiner Frau ein Äuglein zu als wäre sie eine Verschworene - dabei hat sie keine Ahnung, was er sich im Internet gern ansieht.
Als das Essen auf den Tellern ist, stürzen sich sieben Smart-Phone-Betreiber darauf, um es von allen Seiten in Bildern festzuhalten. Im Anschluss an die Knips-Orgie ist alles kalt,
aber die Hauptsache ist trotzdem gelungen:
Der medialen Welt wurde mitgeteilt, wie toll das Essen aussieht. Wen kümmert da noch der Geschmack, der von dem Kaltwerden nicht eben profitiert hat?
Zwischendurch teilt das dritte Kind, ein 17jähriger Sohn seinen homophoben Eltern mit, dass er schwul ist. Die lächeln und knipsen und posten fröhlich weiter ... der besonders teure Rotwein wird ebenso in Fotos verewigt wie der Nachtisch (heimlich beim Italiener gekauft) -
und am Ende freuen sich alle aus der Familie über die vielen, vielen Likes in den "sozialen" Medien.
Total-Online! Absolut Online! In jeder Lebenslage!
Wenn man sie einen Tag später in der realen Welt fragt, was sie miteinander erlebt haben ... fällt niemandem etwas ein.
Die Eltern haben nicht einmal mitbekommen, dass ihr 17jähriger schwul ist. Er wird den nächsten Strom- oder Internet-Ausfall abwarten müssen ... dann ist auch noch Zeit, miteinander zu reden.
Einen schönen Adventstag wünscht Silvia
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen