7. Teil
Henry, Charlie und Momo
Als Charlie an einem ausgesprochen heißen Sommertag, dem 18. Juli 2021, trotz seiner Herzerkrankung mit mir in einem rasanten Tempo vom Tierheim nach Hause gerannt - nicht gelaufen, nein gerannt, ist, habe ich gedacht, dass er so fit ist wie es Robin einst gewesen war, dessen Mitralklappen-Insuffizienz ihn mit Hilfe seiner Medikamente nicht beeinträchtigt hatte.
Ich hatte vermutlich Charlies unglückliches Leben im Tierheim (das lag nicht am Tierheim, aber die Mitarbeiter dort können kein Zuhause ersetzen) unterschätzt, in dem er Tag und Nacht nur geweint hat - und nicht an das freigesetzte
Adrenalin gedacht, als er rein instinktiv mit mir den Weg in eine bessere Zukunft gelaufen ist. Tierische Instinkte sind ja beinahe unerreichbar.
Auch Charlies Popo, der einen großen kreisrunden dunkelroten Kreis gebildet hat, der zwar nie wieder verschwunden ist, wurde in unseren 17 Monaten nicht erweitert, denn er hat aufgehört, sich aus Frust am Hintern zu lecken.
F o t o davon siehe ein paar Zeilen tiefer.
Und immerhin kannte er mich an diesem heißen Tag seit bereits fünf langen Spaziergängen - und da wir am 18. Juli einen völlig anderen Weg als den üblichen eingeschlagen haben, hat er vermutlich geahnt, dass es auch der Weg in ein anderes Leben sein würde.
Ich danke diesem unerreichbaren Adrenalin, das uns Lebewesen manchmal den richtigen Hinweis gibt.
Und niemals hat mich ein Lebewesen tiefer berührt als
Charlie.
Sein Leben muss schwer von Schicksalsschlägen begleitet gewesen sein. Wenn ein Kind vielleicht weiß, was passiert, weil man auch bei extremen Schicksalen mit ihm reden kann, hat es den
Hund Charlie durchs Leben gepeitscht. Ein Hund lebt zwar vermutlich im Hier und Jetzt, aber wenn seine Erfahrung zeigt, dass nichts verlässlich ist
(aus welchen Gründen auch immer)
dann kann er schon mal verzweifelt zurückbleiben.
Mindestens zweimal ist Charlie im Tierheim gestrandet. Beide Male soll ein Todesfall die Ursache gewesen sein.
Beim zweiten mir bekannten Mal ist sein Frauchen verstorben und er blieb beim dementen Herrchen zurück. Jahrelang. Dass er dort nicht gut aufgehoben sein konnte, lag an der furchtbaren Krankheit, die er mittragen musste,
ohne ihr entfliehen zu können.
So sah Charlie aus, als er ins Tierheim kam
Foto: Tierheim Duisburg |
Man sieht nicht nur seine wunde Popo-Stelle, sondern auch seinen Allgemeinzustand. Der alte Herr, der selber nichts für seine Erkrankung gekonnt hat, hat sich nicht mehr regelrecht um Charlie kümmern können. Wie auch? Eine Nachbarin,
die sich um den Halter gekümmert hat, konnte ihn nach langer, langer Zeit davon überzeugen, Charlie im Tierheim abzugeben (ihre Tochter hat mir all das über Facebook erzählt). Dort wurde der kleine Mann
aufgepäppelt, frisiert und medikamentös eingestellt, aber er blieb der
unglücklichste Hund im Heim. Laut Angaben hat er dort Tag und Nacht geweint. Ihm hat sein Zuhause trotz allem vermutlich gefehlt. Er kannte es eben anders als ein Dasein im von mir sogenannten Hunde-Bunker (den habe ich wegen Momo zum ersten Mal und daher viel später überhaupt gesehen) - und wenn er zuvor bereits unglücklich gewesen ist, dann war es hier schlussendlich und obendrein hoffnungslos.
Welch ein Hund in seiner Lage wäre nicht adrenalingesteuert gewesen, wenn er eine Frau kennengelernt hätte - mich - die ihn seinem Instinkt nach aus dieser Lage befreit hatte?
Auch, wenn er sein letztes Herrchen und sein letztes Frauchen nicht trotzdem vermisst hätte?
Charlie war die gütigste Seele, die je ein Fell getragen hat.
Meine Trauer um Charlie ist nicht abgeschlossen, aber er war genau der Hund, der es mir gedankt hätte, wenn ich einem anderen Hund diesen Adrenalinschub
gebracht hätte.
Und darum - und auch aus gewissen Umständen - lernte ich einen Monat nach seinem Tod Momo kennen.
Wie eine alte Gewohnheit habe ich mir die Tierheim-Duisburg-Seite angesehen - und obwohl ich alle Tiere liebe, wusste ich,
dass mir eine Hündin wie Momo - zunächst virtuell - nicht so schnell wieder begegnen würde.
Trotzdem habe ich gezögert. Ich wollte eigentlich keinen Hund mehr, weil der Schmerz um Charlie mich tief nach unten gerissen hatte. Für andere war Charlie
vielleicht der Hund, der unauffällig war, für mich war er in diesen 17 Monaten der beste Freund meines Lebens geworden: und das,
obwohl er unter anderem inkontinent (kein Problem für mich, für ihn vielleicht schon), nach den Anfängen weniger adrenalingesteuert war, dafür eine immense Herzbaustelle hatte, die später nicht mehr mit Medikamenten in den Griff zu bekommen war - und trotzdem mein Ein und Alles wurde.
Aufgrund seiner Po-Baustelle hatte ich zeitweise auch andere Vermutungen als die, dass er sich selber dort früher ohne Ende geleckt hat ... aber nur mein
Charlie selber weiß, was passiert ist. Auf unseren Spaziergängen hat er sich oft, sehr oft umgedreht, als drohe ihm von hinten eine Gefahr ...
eine, die ich ihm nehmen konnte. Aber die er nie ganz abschütteln konnte.
Sicher ist nur, dass sein Leben nie so leicht war wie in unseren 17 Monaten, denn dafür habe ich die Verantwortung übernommen.
Schlafe gut, mein liebster Hund. Im Gegensatz zu Robin und Bienchen, die auch zu meinen liebsten Hunden gehören, hattest du ein schweres Leben. Und
Momo ... ist eine Hündin für sich. Sie schafft es, sich das Leben leichter zu machen. In der nächsten Folge geht es um sie, die alle Herzen bricht und wenn ihr was nicht passt,
auch Finger brechen könnte. Ihre Beißerchen können zuweilen wie Waffen sein, was auch nicht auf eine gute Vergangenheit schließen lässt.
Wir arbeiten daran. Mich beißt sie nicht. Aber der nächste Tierarzt sollte sich in Acht nehmen. Vielmehr muss ich daran noch arbeiten, dass sie ihn nicht beißt.
Fortsetzung folgt
Guten Tag, Gruß Silvia
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