Freitag, 8. Dezember 2023

8. Dezember 2023 - "Telefonzellen sind Straßenbeichtstühle"

Foto: Marianne Mossel


"Telefonzellen sind Straßenbeichtstühle"
- Unbekannt

Heute muss man sagen: es  w a r e n   Straßenbeichtstühle, denn die gelben Häuschen, in die man sich zu einem kleinen Plausch zurückziehen konnte, sind völlig aus der Öffentlichkeit verschwunden. Dabei konnte man aufrecht in ihnen stehen und nach Lust und Laune - und Kleingeld - telefonieren, bis der Hörer

so richtig viele Spuckspuren hatte. Die übernahm dann der nächste Anrufer, und ließ sich nicht lumpen, selber ebenfalls welche zu hinterlassen.

Hygienisch waren diese Telefonhörer ganz sicher nicht.

Aber: hat man damals darüber nachgedacht, dass der Hörer eingespeichelt sein könnte? Wer hatte ein Desinfektionstuch in der Tasche, um die Sprechmuschel vorher zu säubern?

Immerhin war man völlig allein in diesem durchsichtigen Kasten und konnte ohne weitere Zuhörer auch die intimsten Dinge erzählen. Man konnte Verabredungen treffen ... und vielleicht traf man sich auch oft neben dem gelben Häuschen zu einem Date.

Heute laufen tiefgebückte, bald haltungsgeschädigte Leute durch die Straßen, denn sie behalten ihr Handy stets im Auge.

Eine nicht witzige Sache ist uns neulich passiert - wir fuhren mit dem Auto und kamen an eine, wenigstens nicht stark befahrene Kreuzung - und völlig in sich versunken, die Umwelt vergessend, lief eine Frau mittleren Alters über die Straße, ohne den Blick von ihrem Telefon zu wenden ...

So ist das Leben mit einem Handy als Sozial-Partner unter Umständen lebensgefährlich. Das konnte man von den Telefonzellen nicht behaupten. Die schützten sogar vor Regen und Wind ...

Regen und Wind stören allerdings nicht die Handy-Bekloppten, weil die von ihrer natürlichen Umwelt gar nichts mehr mitbekommen, sondern alles interessante Leben in dem kleinen Gerät suchen ... schnell noch etwas schreiben ... schnell noch ein Foto senden  ... schnell knapp dem Unfalltod entrinnen ... und auch bereits die nächste Gefahr ignorieren.

Der Weg vom Telefonhäuschen (und heimischen Festnetzanschluss) zum Handy hat auch dazu beigetragen, dass die Leute großzügiger mit intimen Geständnissen umgehen. Auf den Straßen stehen Leute, die ihrem Telefonpartner

in klitzekleinen Einzelheiten von ihren Krankheiten erzählen. Im Bus habe ich Menschen über Geldprobleme telefonieren hören ... dass man ihnen am liebsten ein Geldstück in die Hand gedrückt hätte ... es dann aber doch nicht getan hat. Es gibt eigentlich nichts mehr, über das manche nicht in der Öffentlichkeit sprechen. Da sind Hämorrhoiden noch ein harmloses Thema ...

Wie fein und diskret waren demgegenüber die Telefonzellen: warteten Leute vor einer besetzten Zelle, hielten sie sogar Abstand ...

Wann eigentlich haben die Leute ihre Hemmungen verloren? 

Und seit wann beichten so viele auf offener Straße von nächtlichen Alkoholeskapaden oder von Fußtritten, die sie ihrem Liebhaber verpasst haben ... und und und ... es gibt kaum etwas, das ich von meinen an mir vorbeigehenden telefonierenden Mitmenschen noch nicht gehört habe.

Ein Hoch auf die Zeit der intimen Telefonzellen. Jetzt ist eine andere Zeit. Eine ganz andere.


Guten Tag, Gruß Silvia



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