Kurzgeschichte
2. Teil
Ein Virus als persönliche Chance?
Merle und Wolfram saßen wie vom Donner gerührt und vom Schicksal zweimal kräftig durchgeschüttelt. Sie hatten weder einen Fernseher noch einen Internet-Anschluss. Nur ihre Smart-Phones. Alles war bereit gewesen zum endgültigen Umzug. Den jeder von ihnen in ein eigenes Leben vollziehen wollte.
Ob sie nun wollten oder nicht: Sie durften diese Wohnung nicht verlassen.
Lieber wäre ich im Knast, dachte Wolfram.
Der Teufel soll den Kerl holen, dachte Merle, er ist schuld an dem Desaster.
Wolfram
Ich brauche jetzt einen Schnaps.
Merle
Eigentlich könnte ich heulen - wer hat unseren Plänen ins Gehirn geblasen? Wer durchkreuzt jetzt meine Zukunft? Ein böser Geist? Der Teufel höchstpersönlich? Ach, nein, der sitzt ja in meiner Nähe und mit mir in einem Boot.
Ich brauche jetzt eine Ladung Alkohol!
Beide brauchten eine Weile, um zu realisieren, dass sie jetzt nicht die Flatter machen konnten, um lustig, fröhlich und völlig frei in ein neues Leben einzutauchen. Sie atmeten tief durch - und hofften auf ein Überleben,
das absolut nichts mit einer möglichen Ansteckung durch Wolfram zu tun hatte. Sie belauerten sich eine Weile,
um die Möglichkeit zu einer vernünftigen Vorgehensweise abzuwägen, die nicht sogleich wieder in Wut-Reden eskalieren würde.
Ich kann mit ihr nicht reden, dachte Wolfram, wir sehen ja nicht einmal denselben Daseins-Zustand des Mondes über uns: Ist Vollmond, ist er für sie halbleer. Sie ist einfach bekloppt.
Er ist der Letzte, mit dem ich irgendein Gespräch führen will, und schon gar nicht ein Waffenstill-Stands-Gespräch, dachte Merle.
Zwei Tage vergingen sehr schweigend. Nur kein Thema beginnen, es könnte im Krieg enden, der eigentlich mittels Trennung ein Ende haben sollte.
Lebensmittel wurden ihnen bis vor die Tür gebracht. Ein kleiner Kocher mit zwei Platten war auch organisiert worden. Denn die Küche war längst abgebaut und stand beschäftigungslos herum.
Wolfram fischte den Fernseher aus einem der vielen Kisten und schloss ihn wieder an. Aber einen Internet-Zugang gab es nicht. Wenigstens konnten sie sich
auf Nachrichten-Sendungen einigen, denn sonst wäre es schwierig geworden. Aber in dieser Zeit und für sie beide ganz persönlich waren die Nachrichten eben das Allerwichtigste.
Die jedoch wirkten keineswegs stimmungserhellend, sondern düster.
Sie hatten zwei Couchen in zwei verschiedene Zimmer gestellt, um darauf zu schlafen. Das Ehebett war
längst im Sperrmüll. So konnte nicht einmal einer oder eine von beiden es benutzen.
Draußen schien die Sonne, drinnen war es grau in grau, in den Köpfen der beiden herrschte Wut oder Trauer, je nachdem, wie die Sicht auf die Dinge sich gerade stabilisierten oder den Bach runter gingen.
Der 3. Tag brach an, und immerhin lebten beide noch. Am Nachmittag des Tages fiel Wolfram seine mitgebrachte Kiste Wein aus Italien ein,
und er beschloss, Merle auf ein Gläschen oder Fläschchen einzuladen.
Ihm war langweilig, ihr war langweilig. Nur ihre jeweiligen Freunde meldeten sich zuverlässig, um sich nach dem Gemütszustand des verfeindeten, aber gefangenen Ehepaars, zu erkundigen.
"Ich weiß wirklich nicht, ob sie sich nicht Mord- und Totschlag wünschen", meinte Merle, "oder ihre Anteilnahme echt ist."
Für den Moment schafften die rüber telefonierten Wünsche der Freunde ein kleines Band der Kumpelei zwischen ihnen,
aber insgesamt blieb es schwierig - und das Band war rissig.
Nicht einmal in einem Knast stecken sie zwei Feinde in eine Zelle, dachte Wolfram.
Ich fühle mich wie in einem Gefängnis, dachte Merle, nichts gegen die Isolation an und für sich, aber doch nicht mit dem größten Idioten auf diesem Planeten.
Wolfram öffnete die erste Weinflasche.
Der Wein sollte nun seinen Dienst verrichten: Entweder weckte er ein bisschen Fröhlichkeit oder er machte einen auf Aggression. Wer konnte das schon vorher ahnen, wer wusste, wie ein gemeinsames Besäufnis enden würde?
Egal, sinnierte Wolfram tief in seinen Gedanken, auch, und falls es am Ende nur einer von uns beiden schafft, hier halbwegs
lebendig rauszukommen ... dann soll Merde das gerne sein.
Fortsetzung folgt
Copyright Silvia Gehrmann
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