Charlie liest Nachrichten ...
Als ich Charlie im Juli 2021 im Tierheim kennenlernte, war er nur darauf aus, so schnell wie möglich zu rennen - als wäre er noch nie in seinem Leben wirklich und nur aus lauter Lust und Laune gelaufen. Das war auch noch so, als ich ihn am 18. Juli 2021 mit nach Hause genommen habe - und eine Weile danach flitzte er immer noch.
Nachdem er offenbar wusste, dass es ihm hier nie an genügend Auslauf mangeln würde, konzentrierte er sich auf ein neues Hobby, das eigentlich das uralte aller Hunde - und besonders der Rüden - ist: er schnupperte an jeder Ecke, an jedem Baum, an jedem Strauch, an jeder Mauer, an jedem Grashalm. Er liest also die
Nachrichten, die Artgenossen hinterlassen haben - und erstellt daraus ein Typen-Profil: hier war der Großkotz, hier die kleine schüchterne Maus - und dort vielleicht der Einschmeichler, der nichts anderes will als nur beliebt sein.
Auch die Hundegröße lässt sich an den Spuren ablesen - und mich würde es gar nicht wundern, wenn der eigenen Wichtigkeit mancher Hundepersönlichkeiten ebenfalls eine gewisse Pinkelspur gewidmet wird.
Denke ich an meinen größten Fährtenleser, denke ich an Robin: er hat so viele Nachrichten sprich Pinkeltropfen gnadenlos angebellt -
aber das macht Charlie nicht. Nicht tagsüber. Er bellt nur nachts in seinen Träumen. Und da er tagsüber keine bösen Erlebnisse hat, können seine nächtlichen Geräusche vermutlich nur die bösen Nachrichten an der nächsten Ecke oder im Wald verursacht haben,
dass er sich im erlösenden Zustand eines Traums noch einmal richtig darüber aufregt.
Sicher vermischen sich auch viele Nachrichten an ein und derselben Stelle: da kommen Drohungen neben Beschwichtigungen zustande - und herzliche neben weniger freundliche. Und so menschenlieb die wirklich meisten Hunde sind,
tierlieb sind sie weniger und gehen gerne Rivalen an die Kragen, die nicht in ihr Konzept passen.
Soziale Medien
Es liegt eigentlich auf der Hand, wer die wahren Erfinder der "sozialen" Medien sind: H u n d e! Von ihnen ist dieses Nachrichtenspiel zwischen Hinz und Kunz gnadenlos abgekupfert,
und in allen Facetten ins menschliche Leben übertragen.
Wären alle Menschen wie Charlie - es gäbe nur freundliche Nachrichten.
Wären alle Menschen wie Robin - da ginge es wesentlich deutlicher zur Sache und würde gelegentlich unter der Gürtellinie landen.
Wären alle Menschen wie mein Bienchen - sie würde all das posten, was Robin ihr einflüstert und am Ende noch einen zickigen Ticken draufsetzen.
Charlie
hingegen freut sich seines freundlichen Daseins und hegt keinerlei böse Gefühle gegen andere Hunde. Die meisten interessieren ihn überhaupt nicht - und auf lautes
Pöbeln ihrerseits geht er stumm an ihnen vorbei, als hätte er es überhaupt nicht gehört.
Aber immer mehr entwickelt er sich zu einem wahren Nachrichten-Experten: er speichert und filtert, trennt ehrliche von falschen und denkt sich sicherlich: die haben aber viel zu erzählen ... und passt sich an. Es gibt schließlich keine Nachricht mit einem noch so geringen lächerlichen Inhalt, die es nicht wert wäre, in die
Welt hinausgepinkelt zu werden.
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