"Ich war einmal eine weiße Hochzeitstaube ..."
Nun nennen mich die Leute "Ratte der Lüfte" - ganz so, wie sie auch all meine Artgenossen rufen, die grauen, die blauen, die grau-weißen und all die anderen Schönheiten in ihren Federkleidern. Manchmal sagt der Schwarm-Chef zu uns:
Die Menschen sind nur neidisch auf uns, denn sie können machen was sie wollen - aus eigener Kraft fliegen werden sie nie!
Ich sollte den Leuten Glück bringen.
Aber es ist so eine Sache mit dem Glück. Der eine soll es bringen, der andere gleichzeitg verlieren. Vor allem sehe ich mich nicht in der Verantwortung,
Hochzeitspaaren Glück zu bringen. Dafür sind sie selber zuständig.
Nach dem Fliegenlassen habe ich genug damit zu tun gehabt, mich um mich selber und um meine kleinen und doch oft so unerfüllbaren Bedürfnisse zu kümmern: Eigentlich wurde ich
in eine traurige Zukunft entlassen, in der es von Glück nur selten eine Spur gibt.
Und so manches Hochzeitspaar, das meine Kumpel in die Luft geschickt hat - schon wegen dem tollen Effekt,
tritt heute nach uns. Nicht mal ein Körnchen Reis würden sie uns gönnen oder eine alte getrocknete Erbse.
Alles unterliegt nur dem schönen Schein.
So sind auch wir Weißen eben auf diese Farbe hin gezüchtet worden - zu Lasten anderer Fähigkeiten wie z. B. dem Orientierungs-Sinn.
Nach einer Hochzeit
Von unseren Haltern werden wir für romantische Hochzeiten vermietet. Aber uns irgendwo in unbekannter Ferne als Glücks- und Friedenssymbol frei zu lassen ...
kommt einer Aussetzung von Haustieren gleich.
Auf der Suche zurück nach Hause verlieren wir Weißen das Ziel aus dem Blick. Wir hungern, und Gefahr droht uns durch Greifvögel oder durch das Verheddern in irgendwelchen Alltagsgefahren.
Ich gehöre auch zu denen, die den Weg zurück nicht gefunden haben. Nun lebe ich einem Schwarm, und wir sind tagtäglich nur damit beschäftigt,
überhaupt ein bisschen satt zu werden.
Im Corona-Lockdown fehlten uns die von Menschen weg geworfenen Abfälle. Auch, wenn die unserer Gesundheit nicht zuträglich sind ... sie haben uns zumindest ein bisschen satt gemacht.
Nach dem Lockdown sind wir verzweifelt auf der Suche nach Wasserstellen, weil es an Regen mangelt. Doch nach wie vor suchen wir auch nach einem Funken von Glück und Akzeptanz.
Verteufelt mich nicht
... denn wie alle Lebewesen will auch ich nur leben. Dass dieses Leben keineswegs romantisch ist, wäre nicht das Schlimmste:
Das Schlimmste ist, dass es verboten und sogar verpönt ist, uns zu füttern und zu tränken.
Solche Verbote lassen sich gut einhalten, wenn man selber satt und kugelrund ist.
Wir sind meistens dünn und niemals satt.
Viele von uns verhungern sogar.
Ein Hoch auf alle Heimlich-Futterspender, die sich beinahe (nach Meinung vieler Leute) kriminell verhalten, um uns zu helfen - immer verfolgt von einigen bösen Augen der Nachbarn, die diesen Helfern das Leben schwer machen ... manche Blicke jedoch begleiten das wohlwollend ... und nachahmend.
Guten Tag, Gruß Silvia
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