Samstag, 18. September 2021

18. September 2021 - Kurzgeschichte in 2 Teilen: "Das Haus der alten Damen" - 2. Teil

"Das Haus der alten Damen"
Kurzgeschichte in 2 Teilen

2. Teil


Der Friseur

hieß Andy Marshall, und so lautete auch der Name seines Ladens. Wie schön, dachte ich, dass sein Geschäft nicht "Hair Fair" oder ähnlich lautete.

"Sie sind die neue Mieterin in diesem Haus?" fragte er mich, und schnippschnapp war eine Strähne meiner braunen Haare ab. Ich zuckte zusammen, als wäre Haareschneiden schmerzhaft. Allerdings hatte er ein wenig an einer Strähne gezogen. Ich unterstellte ihm Vorsatz.

"Ich bin eine ganz liebe Person", erklärte ich mit Absicht und ziemlich überzogen, "was andere Leute machen, interessiert mich überhaupt nicht. Eigentlich will ich nur meine Ruhe haben, weiter nichts. Außerdem bin ich tagsüber nie zu Hause, und an den Abenden gehe ich früh zu Bett." Ich wollte, dass er es diesen

Silberlockenköpfchen genau so weitererzählte. Er als ihr gemeinsamer Friseur besaß sicherlich einen Zugang zu ihnen, und das, obwohl er höchstens so alt war wie ich. Aber er war ein Mann. Manchmal reichte das als Erklärung.

Inzwischen kannte ich vom Vorbeihuschen ein paar dieser Silberlöckchen aus dem Haus, in dem ich nun wohnte. Offenbar waren diese silbernen Markenzeichen Pflicht im Universum der alten Damen: silber wohlgemerkt, nicht grau. Und um diese Farbe zu erreichen, musste Andy Marshall ganz sicher nachhelfen.

"Aber die Damen lehnen mich offensichtlich ab", fuhr ich fort. Er ziepte an meinen Haaren. Und er schüttelte den Kopf:

"Das geht nicht gegen Sie persönlich. Manche Leute sind gern unter ihresgleichen."

"Ich gehöre auch zur Gattung Mensch", entfuhr es mir.

Wieder ziepte er an meinen Haaren, als müsse er mich zurechtweisen: "Ich bin ein großer Verehrer von Mrs. Wonderbell. Sie ist eine sehr kluge alte Dame, und sie sagt immer: nur ältere Menschen sind wirklich tolerant. Ihr ist Toleranz sehr wichtig. Und wenn Sie nun einwenden möchten, dass Sie das Verhalten dieser Damen als nicht tolerant ansehen ... so können Sie nicht begreifen, worum es ihnen geht. Vor allem fürchten sie nämlich die Intoleranz der Jugend und die der mittleren Generation. Diese Junghüpfer-Generationen haben noch so viel zu verlieren und bei ihnen überwiegt die Ängstlichkeit."

Für mich war das nur ein einziges Geschwafel. Wer durfte Toleranz einfordern, der selber gar keine Ahnung von Toleranz hatte?

Immerhin war nun klar, dass ich mir gewisse Dinge nicht einbildete. Sie betraten in meiner Abwesenheit meine Wohnung, und sie wollten mich auf diesem Weg aus dem Haus ekeln.

Mit dem Einverständnis von Mrs. Miller ließ ich mein Türschloss austauschen.


Mrs. Wonderbell

Natürlich konnten die alten Damen nun nicht mehr meine Wohnung betreten, aber vielleicht brauchten sie das auch gar nicht, weil sie bereits alles über mich wussten, was sich ihrer Meinung nach zu wissen lohnte. Und verunsichert war ich ohnehin bereits. An den Abenden schlich ich nun in meine Wohnung. Ich fühlte mich mehr und mehr unwohl. Zwar blieben diese Silberlöckchen für mich weitgehend unsichtbar,

aber sie waren dennoch präsent. Ich spürte sie. Ich roch sie. Ich träumte sogar von ihnen. In meinen Träumen hatten sie silbergraue Fratzen und lachten wie Teufelinnen.

Dann stand an einem Sonntag plötzlich eine von ihnen, und keine geringere als Mrs. Wonderbell höchstpersönlich, vor meiner Tür. Sie hatte ein liebes Gesichtchen und sie grinste auch nicht in der Art, wie ich es mir von Teufelinnen vorstellte. Stattdessen lächelte sie und trug eine kleine Plastiktasche in ihrer Hand.

"Darf ich reinkommen", fragte sie. Beinahe hätte ich gesagt: Ja, Sie kennen sich schließlich bereits in meiner Wohnung aus ... aber ich ging verdutzt nur zur Seite und ließ sie eintreten. Ich ging noch weiter und bot ihr einen Kaffee an.

"Wie wäre es mit einem kleinen Späßchen zum Kaffee?" fragte sie. Als ich nicht verstand, was sie meinte, öffnete sie die Plastiktasche und zog zwei

Joints und ein Feuerzeug heraus.

Wir pafften beinahe gemütlich jeweils unseren Joint, und ich wurde immer ruhiger und gelassener.

"Mr. Andy hat sich mit Ihnen unterhalten", sagte sie, "und er ist der Meinung, dass es für Sie an der Zeit wäre, mehr Toleranz zu erlernen als junge Hüpfer wie Sie gemeinhin haben. Sicher haben Sie gespürt, wie unerwünscht Sie in diesem Haus sind ... junge Leute sind manchmal einfach so kritisch, was die einfachsten Sachen anbelangt ... das war für uns auch der Grund, warum wir uns in Ihrer Wohnung ein bisschen schlau über Sie gemacht haben."

Ich schluckte. Sie gab unumwunden zu, in meine Wohnung eingedrungen zu sein. Der kleine Joint für den Hausgebrauch war sicherlich keine Straftat, aber ein Wohnungseinbruch war schon eine andere Hausnummer ...

Kleiner Joint! Hausgebrauch! Wie ich mich irrte!

In meiner Wohnung hatten die Ladies von meinen Schulden erfahren, und mich daraufhin und nach meinem Friseurbesuch als "tolerant" (was immer das in ihren Augen bedeutete) genug eingestuft, mich in ihre Geschäfte einbinden zu können.

Diese Silberlöckchen! Als könnten sie kein Wässerchen trüben, hatten sie es in Wahrheit faustdick hinter ihren Perlenohrring-Ohren.

Im hinteren Keller, zu dem ich selber keinen Zugang hatte, gärtnerten sie an ihrer Cannabis-Plantage herum, als wäre es ein Alpenveilchen-Feldchen. Den Vertrieb übernahm dann der umtriebige Friseur Andy. Er rekrutierte die Kunden.

"Wir beliefern nur ältere Leutchen, die mal ein bisschen Spaß haben wollen ... oder Menschen, denen Cannabis die Schmerzen ihrer Krankheiten nehmen kann. Daran ist ja nichts verwerflich, obwohl es natürlich ein bisschen illegal ist

und Toleranz erfordert."

Ich wurde dann zu der jüngsten Toleranten, die Mr. Wonderbell jemals gekannt hatte ... als schöner Nebeneffekt lösten sich meine Schulden in Luft auf und mein Guthaben

war inzwischen recht beträchtlich.

E N D E

Copyright Silvia Gehrmann


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