Freitag, 17. September 2021

17. September 2021 - Kurzgeschichte in 2. Teilen: "Das Haus der alten Damen" - 1. Teil

Kurzgeschichte
in 2 Teilen

1. Teil


Das Haus der alten Damen

Vor einigen Jahren war ich hals- über kopf und unvernünftig schwer verliebt zu Brian gezogen. Er lebte in einem kleinen Ort in Yorkshire, und ich liebte ihn. Das hatte zur Folge, dass ich mir ein Leben ohne ihn gar nicht mehr vorstellen konnte.

Doch manchmal ändern sich die Dinge und erst recht die Gefühle: Brians rabenschwarzer Humor - meist auf meine Kosten - war noch das geringere von allen Übeln. 

Nun musste ich mich schnell auch räumlich von ihm trennen, und ich begab mich auf Wohnungssuche. Für diese Zwischenzeit buchte ich mich in ein Hotel ein - ich konnte mit Brian nicht mehr unter einem Dach leben.

Ein Hotel ist auf Dauer natürlich ziemlich teuer, und ich war nicht begütert: das beschreibt auch die Dringlichkeit, mit der ich nach einer Wohnung suchte. Ich hatte so einige Besichtigungen und ebenso viele Absagen hinter mir,

als ich an einem schönen Haus hinter einem Wohnungsfenster im 1. Stock das Schild "zu vermieten" las.

Ein Telefon-Gespräch führte mich in ein Büro ein paar Straßen weiter. Eine Frau in meinem Alter begrüßte mich freundlich. Erst als ich ihr erzählte, für welche Wohnung ich mich interessierte, verfinsterte sich ihr Blick:

"Sie sind viel zu jung für dieses Haus. Wie alt sind Sie?"

"Ich bin schon 46 Jahre alt", antwortete ich. Aber offenbar war das nicht nur die falsche Antwort, sondern auch das falsche Alter.

"In diesem Haus leben lauter reizende ältere Damen", erzählte die Angestellte, die Mrs. Miller hieß, "jetzt noch sieben an der Zahl, und sie mögen es ruhig, beschaulich, sauber und vor allem mögen sie keine Überraschungen in Form von jungen Hüpfern. Leider ist kürzlich eine der alten Damen verstorben, und somit suchen wir für ihre Wohnung eine Frau in ebenfalls höherem Alter."

"Aber ...", protestierte ich leise, denn die Angestellte sollte sogleich merken, dass ich Lautstärke verabscheute, "Mrs. Miller, Sie sind doch auch höchstens in meinem Alter ... da müssten Sie doch Verständnis aufbringen ... ich suche dringend eine neue Wohnung ..."

"Betrachten Sie es mit den Augen unserer älteren Mieterinnen. Sie sind im Laufe der Zeit eine eingeschworene Gemeinschaft geworden, und die soll nicht gestört werden."

"Ich werde sie keinesfalls stören. Die alten Damen werden mich gar nicht bemerken."

Diese harten Verhandlungen um eine Wohnung, die ich noch nicht einmal gesehen hatte, gingen noch eine ganze Weile in die Verlängerung. Schließlich ließ sie sich erweichen, mir die Wohnung zu zeigen. Sie hoffte wohl, dass ich von selbst Abstand nehmen würde. Aber die kleine Wohnung war genau nach dem Geschmack, den ich mir derzeit leisten konnte. Meine eingelagerten Möbel reichten ebenfalls, um die zwei Räume plus Küche und Bad wohnlich herzurichten. Alles war bestens ...

und auch Mrs. Miller ließ sich erweichen. Mit einer Bittermiene reichte sie mir den Mietvertrag und wünschte mir viel Glück inmitten dieser alten Damen.

Brauchte ich das?

Mir war zumindest im Moment nach totaler Abgeschiedenheit zumute, so dass ich überhaupt nicht im Sinn hatte, die alten Damen näher kennenzulernen oder ihnen irgendwie in die Quere zu kommen. Sie würden gar nicht merken, dass ich eingezogen war.


In der neuen Wohnung

Es bereitete mir einen Heidenspaß, die Wohnung mit meinen eigenen Möbeln bestücken zu können und sie hübsch herzurichten. Endlich konnte ich das Kapitel Brian hinter mir lassen. Tagsüber war ich im Büro, und abends war ich glücklich in meiner neuen Wohnung. Es waren bereits ein paar Tage vergangen, aber von den alten Damen hatte ich noch keine Spur entdeckt. Vermutlich schliefen sie noch, wenn ich das Haus verließ ... und schon wieder, wenn ich am frühen Abend heimkehrte. Mrs. Miller hatte die Lage sicherlich überinterpretiert.

Wie man sich irren kann. Wie ich mich irren konnte.

Im Nachhinein erfuhr ich, dass mein Einzug bei den 7 bereits hier wohnenden alten Damen einen regelrechten Tumult ausgelöst hatte: Sie betrachteten die Mauern um sich herum als ihr alleiniges Eigentum, an dem niemand teilhaben durfte, der weit unter 75 Jahre alt war. Ihre 7er-Gesellschaft war von strengen Hierarchien geprägt:

allen voran hatte Alice Wonderbell das Zepter in der Hand. An ihrer Seite und immer hinter ihr in ihrem Schatten standen die beiden von mir später sogenannten Hofdamen Peggy und Agatha. Darunter das gemeine Volk der 4 anderen Damen. Ich gehörte nicht einmal zu ihrem gemeinsamen Kosmos ... obwohl ich davon nicht den Schimmer einer Ahnung hatte, als ich mich glücklich an meinen freien Abenden und am Wochenende in der Wohnung zurücklehnte.

Eine kleine Ahnung bekam ich, als ich an einem Abend bei meiner Heimkehr bemerkte, dass mein Schloss nur einmal anstatt wie ich es stets machte, zweimal herumgeschlossen war. Aber wahrscheinlich hatte ich in der Eile des frühen Morgens meine Gewohnheit einfach vergessen ...

An einem anderen Tag lag eine Zeitschrift plötzlich nicht mehr dort, wo ich sie hingelegt hatte ... sondern dort, wo ich sie nie hinlegen würde: in der Küche. Dann fand ich tagelang alles wieder genau so vor, wie ich es am Morgen verlassen hatte. Aber das bedeutete ja nicht,

dass nicht auch an diesen Tagen jemand in meiner Wohnung gewesen war. Ich vermutete, dass sie einen Schlüssel meiner Vormieterin besaßen ...

Wo erfährt man mehr über die Leute, die in einer Nachbarschaft wohnen? Genau: bei einem ortsansässigen Friseur. Und hier gab es sogar ein einen Friseurladen im selben Haus. Ich ließ mir dort einen Termin geben ...


Fortsetzung folgt
Copyright Silvia Gehrmann

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen