Samstag, 25. September 2021

25. September 2021 - Kurzgeschichte in 2 Teilen: 2. Teil: Der Himmel kann ganz schön teuflisch sein ...


Kurzgeschichte in 2 Teilen:

2. Teil


Der Himmel kann ganz schön teuflisch sein ...

Karls Ankunft

Plötzlich - nach dieser Zwischenzeit - fühlte Karl sich wie auf Wolken getragen und weich von ihnen eingehüllt. Er öffnete seine Augen weit und sah: es war wirklich eine große Wolke, die ihn trug und mit ihm davonflog. Wohin? Er verspürte keinerlei Angst. Er war gelöst wie noch nie. Weggeblasen waren auch die Beschwerden, die ihm seine Krankheit beschert hatten. Er war wieder gesund und fühlte Tatkraft und auch einen gewissen Tatendrang.

Die Wolke flog eine ganze Weile.
Sie flog an seinem Leben vorbei.

Er erkannte seine Mutter und seinen Vater, die sich über seine Geburt freuten. Er sah sich in der Grundschule und im Gymnasium. Er begegnete sich selber in seinem Studium und während seiner beruflichen Jahre. Ihm flogen Erlebnisse entgegen, die er völlig vergessen hatte. Karl genoss diese unvergleichlich schöne Wolkenzeit ... doch sie war nicht nur schön, sie zeigte ihm auch seine eigenen Schattenseiten auf ...

und sie ging vorüber und endete mit seinem Sterben, das ebenfalls an ihm vorbeirauschte. Er sah sich selber und Susanne, die an seinem Totenbett weinte ...

Dann kehrte er ins neue Hier und Jetzt zurück und empfand eine tiefe Stille und Geborgenheit. Eine ganze Weile, die man in Menschenzeit nicht messen kann, lag er tief zufrieden und glücklich in der Wolke, als er plötzlich

dort landete, wo Petrus einige Zeit vorher den Blitz wegretuschiert hatte:

zwischen zwei Frauen. Genauer gesagt zwischen Karin und Paula. Seinen beiden vor ihm verstorbenen Ehefrauen.

Die Landung war für himmlische Verhältnisse ziemlich hart. Zum ersten Mal in dieser neuen Atmosphäre spürte er seinen Hintern, der von dem Aufprall am meisten betroffen war. Platsch. An seiner rechten Seite saß Karin, an seiner linken Paula, und für Karl gab es kein Entkommen. Schlimmer hätte es ihn kaum treffen können. Dabei hatte er geglaubt, im Himmel zu sein ...

"Du bist auch im Himmel", antwortete Karin auf seine nicht gestellte Frage; sie hatte schon früher oft genug seine Gedanken lesen können.

Karl fühlte sich jetzt unwohl, und somit konnte es kaum der Himmel sein. Selbst er als Atheist hatte mitbekommen, dass, wenn es ihn gab, der Himmel nur ein friedlicher Ort voller Liebe sein konnte. Liebe empfand er jetzt gar nicht, nur Angst. Vielleicht auch ein bisschen Sorge. Konnte ihn nicht jemand aus diesem Zwischenraum inmitten seiner beiden Ehefrauen befreien?

Nun trat Petrus auf den Plan, ein gütig aussehender Mann mit einem Dreijahres-Bart in lässiger Kleidung, den auch Karl sofort als ein Mitglied des himmlischen Parlaments identifizierte. Zu nah waren plötzlich seine Erinnerungen an sich selber als ein katholisch erzogenes Kind. Und Petrus sah eben aus wie Petrus in den Augen der Menschen aussieht.

"Hallo Karl", begrüßte Petrus ihn, "ich hoffe, du hast deine Reise hierher als nicht allzu beschwerlich empfunden."

Karl schüttelte den Kopf: "Ich bin in Frieden eingeschlafen ohne allzu große Schmerzen. Und mit meiner lieben Frau Susanne an der Seite."

Karin und Paula lachten laut auf: "Da hat Susanne Glück gehabt, dass du gestorben bist, bevor du ihrer überdrüssig geworden bist", meinte Karin, und Paula fügte hinzu: "Aber wir haben unsere Hände über Susanne gehalten ... auch, wenn Karin und ich leider nie die besten Freundinnen geworden sind. Wir hatten trotzdem immer ein gemeinsames Ziel."

"Ich dachte, hier im Himmel sei immer alles eitel Sonnenschein", wandte Karl ein, "ein Weiterleben ohne Feindschaften und so ..." Er fühlte sich plötzlich hilflos. Und dann schüttelte auch Petrus noch den Kopf:

"Nein, nein, so einfach ist das hier nicht", erklärte er, "es gibt verschiedene Himmels-Stationen, und diese hier ist die erste. Sozusagen der Vor-Vor-Himmel ... in dem ist es zwar schöner als auf der Erde, aber noch nicht so paradiesisch wie im Endstation-Himmel."

Karl nickte und ließ den Kopf hängen. Er wäre nun also seinen beiden früheren Ehefrauen ausgeliefert? Immerhin kannten sie sich hier besser aus als er, sie waren bereits etabliert, er der Neuling, der sie fürchtete.

"Im Vor-Vor-Himmel wird eine Entscheidung über jedes einzelne Leben getroffen", sagte Petrus, "und als Mit-Richter dürfen die Menschen auftreten, mit denen der gerade Verstorbene am meisten erlebt hat. Daher sind Karin und Paula hier ... Sie sind ..."

"Meine Richterinnen?" Karl zuckte zusammen. Er hatte seine Taten so lange erfolgreich verdrängt, dass er selbst auf seiner Wolke kaum daran gedacht hatte, dass sie ihn hier einholen könnten. Selbst als sie als Lebensereignisse an ihm vorbeizogen, empfand er es nicht als wirklich schwerwiegend: die beiden hatten ihre Schicksale verdient gehabt. - Und war hier nicht der Ort des großen Verzeihens?

Karl war in seinen Berufsjahren Ingenieur bei einem großen Autohersteller gewesen. Als solcher waren seine Taten für ihn eine Kleinigkeit gewesen ...

"Du hast unsere Autos manipuliert", sagte Karin, "du bist unser Mörder."

Die beiden Frauen packten Karl je an einem Arm und zogen ihn ein Stückchen weiter, während Petrus bereits vor einem Aufzug auf das Trio wartete:

Petrus öffnete den Aufzug und gab Karl einen Wink, dass er einsteigen solle: "Das ist der Aufzug nach unten, mein Freund. In die Vorhölle. Dort hast du die Gelegenheit, dich zu bewähren ...

aber glaube mir, diese Bewährungsprobe ist absolut nicht einfach und kaum je einer besteht sie. Wenn er sie aber doch besteht, darf er zurück in den Vor-Vor-Himmel. Nur dann! Bitte einsteigen, Karl."

Karl warf einen Blick auf Karin und Paula und stieg in den Aufzug. Die Tür schloss sich, und Karl fuhr der Hölle entgegen.


ENDE
Copyright Silvia Gehrmann

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