Samstag, 19. Oktober 2019

19. Oktober 2019 - Die Bilanz seiner Jahre



Die Bilanz seiner Jahre

Manche Leute sind bereits zu Lebzeiten auf einem anderen Stern und fernab von jeder normalen Handhabe des Alltags, der Art zu sprechen, und insgesamt sehen sie sich wohl als Kunstwerk. Ich denke an einen sehr, sehr bekannten deutschen Künstler. Jedesmal, wenn ich ihn sehe, frage ich mich, von welchem Planeten der wohl kommt. An diesem Mann ist nichts Natürliches mehr, nichts, was auf  einen Hauch Irdisches hindeutet oder auf einen Funken Normalität. Wohl nicht ohne Grund lässt er sich kaum jemals in die Augen blicken.

Vor diesem größenwahnsinnigen Irrsinn sind Hunde im allgemeinen gefeit: Diese Dummheit passiert ihnen einfach nicht, denn sie halten sich bisweilen zwar für den Stärksten, aber akzeptieren dann unbedingt auch die Stärke anderer Artgenossen, wenn sie sich ihnen prominent und dominant entgegen stellt.

Robin wurde 15 Jahre, 7 Monate und genau 3 Wochen alt.

Er hat sich oft aufgeplustert. In seinen ersten, besonders wilden Lebensjahren hatte ich viel Angst um ihn. Nicht, weil es ihm gesundheitlich schlecht gegangen wäre - sondern weil es ihm sehr gut ging, und er sich mit anderen Rüden gern gemessen hat.

Ich schreibe es mir zu, dass er insgesamt nur dreimal - und nur zu Erziehungszwecken - von anderen Rüden regelrecht flach gelegt wurde. Verletzungsfrei! Andere vielleicht gefährliche Situationen habe ich durch schnelles Eingreifen oder Ausweichen verhindern können. Ich kannte schließlich meinen Helden.

Von Hündinnen hat er sich bis fast zum Schluss alles bieten lassen. In den letzten 5 Monaten seines Lebens war er blind, und in diesem Zustand war es ihm egal, ob ihm Rüde oder Hündin zu nahe kamen - er wollte das nicht mehr.

Insofern kann mir niemand mehr erzählen, Blindheit bedeutet für Hunde nicht viel. Ich glaube, er hat bis zum Schluss sein Augenlicht gesucht ... vergeblich, aber stets hoffend.

Er war ausgesprochen menschenbezogen, bevorzugte aber Frauen: Anfangs eher junge Frauen, später durften sie auch älter sein. Und er vergaß nie einen Menschen, der ihm gefiel. Auf unseren Busfahrten hatte er sich sogar eine kleine Fan-Basis aufgebaut. Das konnte schon mal groteske Züge annehmen, wenn es Eifersüchteleien gab.

Erziehung mit Leckerchen? Unmöglich bei Robin. Mal nahm er eines, meistens nicht. Daher haben wir für Notzeiten eine Art Medical-Training durchgeführt. Als er dann in seinen späten Jahren täglich Herztabletten nehmen musste,

ging das völlig problemlos: Er öffnete zweimal am Tag selbstständig sein Mäulchen, ich schob die Medikamente rein, er schluckte.

Er erkundete gerne neue Gegenden.

Social Media muss man sich ohnehin von Hunden abgeschaut haben: Besonders Rüden hinterlassen überall ihre Nachrichten und lesen genau so intensiv die anderer Hunde. Robin war darin der große Meister. Selbst, wenn er die letzte Nachricht noch mit dem letzten Tropfen Pipi schreiben musste.

Er hat Bienchen, die Malteser-Hündin, meiner Mutter in 2010 sofort akzeptiert. In vollem Umfang. Geliebt hat er sie eher weniger. Vielleicht ist er trotz Bienchen der Einzelhund geblieben.

Robin hatte Rituale. Die musste er einhalten, und er vergaß nie ein Ritual, so viele es auch waren. Im Aufzug während der Fahrt mehrmals um mich herumzulaufen, war eines davon. Das hat übrigens Bienchen inzwischen übernommen. Aber sie pinkelt meist auch wie ein Rüde - er war eben ihr großes Vorbild.

In seinem engsten Hundekreis war er der Anführer. Aber einer mit Sinn und Verstand.

Ja, sein Verstand war besonders ausgeprägt. Außer in Gelegenheiten großer Wut, die auch schon mal vorkamen, war er der

denkende Hund. Er sprang nicht kopflos drauf los, sondern schätzte alles vorher ab.

Selbst die Narkose am 2. April 2019, als ihm beide Augen entfernt wurden, hat seinem klugen Kopf nicht geschadet.

Oder doch? Seine Blindheit ließ ihn nämlich noch mehr als früher nachdenken und überlegen, ob er sich das eine oder andere zutrauen konnte.

Immerhin war er noch in der Lernphase, als er sterben musste.

Gelernt hatte er ganz schnell neue Wörter wie "Stufe", "Vorsicht", "Zuhause" - das sagte ich immer, kurz bevor wir Zuhause ankamen, falls er noch mal pinkeln musste und überhaupt. Obwohl ich sicher war, dass er wusste, wann wir Zuhause angekommen waren.

Mir fehlt nicht nur der junge wilde Hund und der ältere bedachte, sondern auch seine Intelligenz. Ich kann sie noch greifen, aber ich bekomme sie nicht mehr zu fassen.

Das und vieles Unerwähnte mehr war Robin.

In all den Jahren waren wir nur eine einzige Nacht voneinander getrennt. Es war die Nacht vom 2. auf den 3. April 2019, die Nacht nach seiner Augen-Operation.  Die musste er zur Sicherheit in der Klinik verbringen.

Wir hatten Millionen von Momenten, und die sind jetzt sein hinterlassenes Erbe und machen mich unendlich reich.

Und unendlich traurig.


Guten Tag, Gruß Silvia


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