Samstag, 9. September 2023

9. September 2023 - Die ostpreußische Prinzessin



Die ostpreußische Prinzessin

Wie sollte ein Mädchen keine Prinzessin sein, die drei größere und wesentlich ältere Brüder und zwei sie vergötternde Elternteile hatte? So gelangte Christel, meine Mutter, zu dem Status einer titellosen Hoheit. Vielleicht legt man den im Großbürgerlichen geborenen Status einer Prinzessin niemals ab, egal, was diesem schicksalsmäßig widerspricht. Selbst, wenn man kriegsmäßig vom lange verschonten Ostpreußen am Ende und auf der Flucht in Dänemark, dann in Bochum landet, um später in Dortmund zu stranden.

Kaum jemand hat damals in Ostpreußen geglaubt, dass all die Pferde (für die Ostpreußen berühmt war) und Menschen je vom Krieg heimgesucht und gefährdet sein könnten,

bis das Leben allen einen gehörigen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Gerade noch hat die Prinzessin mit ihrem Malteser-Hund "Pünktchen" gespielt, schon muss sie mit ihrer

Mutter Alma auf die Flucht in einem Pferdewagen und in Richtung Ostsee und darüber hinaus gehen.

Pünktchen war zeitlebens für meine Mutter mehr ein Thema als Alma, obwohl sie Alma auch nicht vernachlässigt hat. Aber: um mehr über Alma zu erzählen, war der Schmerz wohl zu groß. Auch über Pünktchen kenne ich nur einige Eckpunkte,

die zu der Verschleierungs-Taktik (weil es zu schmerzhaft war) eines damaligen Mädchens und meiner späteren Mutter gehörte, wie eben die bitterbösen Erlebnisse, die diese Generation erfahren musste,

versteckt, verdeckt - und als beinahe nie geschehen von ihnen begraben wurden.

Was wurde aus einer ostpreußischen Prinzessin in Dänemark?

Sie lebte in einem Lager - mit ihrer Mutter. Sie waren als Flüchtlinge nicht mehr wert als die Ratten, die das Lager okkupiert hatten. Ihre ihnen zugewiesene Nahrung bestand aus Abfällen, die mit menschlichen Haaren angereichert waren. Und eine Krankheit

breitete sich aus: der Typhus.

Zweifel an Christels Erzählungen hege ich nicht. Schon als Halbwüchsige konnte ich erkennen, wie viel Schmerz in ihren Augen war, wenn sie von Dänemark und dem Flüchtlingslager dort erzählte.

Niemand, der solche Zustände nicht erlebt hat, kann das nachvollziehen. Auch ich nicht, die ich hin und wieder - nicht zu oft - davon gehört habe.

Alma, die Mutter der Prinzessin und dreier Söhne, starb an Typhus. Letzte Habseligkeiten, die sie aus Ostpreußen (Allenstein) hinüber gerettet hatte, wurden ihr posthum oder auch schon davor, gestohlen. Ihre

Prinzessin wurde erst Tage später von Almas Tod unterrichtet, denn man hatte Mutter und Kind separiert.

Auch die Prinzessin war an Typhus erkrankt. Aber das war natürlich  nicht der Grund der räumlichen Trennung. Man wollte die ungeliebten Flüchtlinge quälen.

Wo in all dem Dilemma Pünktchen abgeblieben war, weiß niemand. Darüber hat meine ostpreußische Prinzessin niemals gesprochen. Pünktchen war eine Malteser-Hündin,

genau so eine wie es die letzte Hündin der Prinzessin auch war, die Bienchen hieß. Bienchen landete gern und gewollt nach der Prinzessin Tod

bei mir. Dort blieb Bienchen bis zu ihrem Tod mit 17 Jahren, 3 Monaten und 12 Tagen  am 25. Januar 2021.

Aber Pünktchens Schicksal bleibt auf ewig im Dunkeln.


Ende?

Es gibt kein schlüssiges Ende dieser Geschichte, und schon überhaupt nicht gibt es eine Auflösung dieser Dinge, die immer im Dunkeln liegen werden.

Irgendwann wurde die Prinzessin meine Mutter - und vorher die Frau meines späteren Vaters, der sie  immer über alles geliebt hat: aber er war kein Prinz,

sondern der Dachdecker, der oft in Gefahr war. Nicht nur durch die Arbeit in schwindelnder Höhe, sondern auch durch das Arbeitsmaterial Asbest.

Mal hat sie sich um ihn gesorgt, ein anderes Mal war es ihr gleichgültig, wenn er auf einem Kirchdach beinahe die Balance verlor,

aber das in Kauf nahm, um seine kleine Familie gut ernähren zu können.

Immerhin hat die Prinzessin ihr Lachen wiedergefunden, das hell und erfrischend ehrlich war  -

bis ihr Sohn, mein Bruder, bei einem Hotelbrand ums Leben kam. Das hat ihr den Stich versetzt, der dem Tropfen gleicht, der alle zuvor erlittenen inneren Qualen zum Explodieren bringt - und die Ungerechtigkeit

mir gegenüber ins Herz gebrannt, denn sie hätte - hätte sie die Wahl gehabt - lieber mich als Heinz verloren.

Er war ihr Sonnenschein, ihr täglicher Grund, ohne Prinzessinnen-Status trotzdem wieder aufzustehen.

Ich war ihr zu ähnlich - ohne je die Attitüden einer Prinzessin gehabt zu haben: sie hat gern geschrieben - und ich schreibe gern. Und es gibt weitere eintausend Ähnlichkeiten.

Zwischendurch und nach Heinz' Tod hatten wir gute Zeiten, aber auch schlechte.

Am Ende ihres Lebens in 2010 hat sie zu mir zurückgefunden, und zwar endgültig und stolz. Als wäre ich eine ganz besondere Person, von der sie allen plötzlich erzählen musste. Und sie hat mir ihr Allerheiligstes - die Hündin Bienchen - anvertraut.

Allerdings war ich nie diese besondere Person, sondern immer nur ich selbst: voller Fehler und Fehlentscheidungen. Ich hatte eine

Prinzessin als Mutter,

war aber selber keine.

Das Leben ist eines der schwersten ...

Sie fehlt mir so unendlich, obwohl ich nie ihre Träume erfüllt habe - vielleicht auch, weil sie es mir tief im Innern nicht gegönnt und mich behindert hat: Mutter-Tochter-Rivalitäten sind nicht unbekannt in der Psychologie.

Sie war eben meine ostpreußische Prinzessin - und Ostpreußen war immer schon weit weg von Dortmund.

Geboren als Edith Margarethe Christel Gehrmann, verheiratete Schäfer, am

4. Februar 1930, gestorben am 19. Juli 2010 in Trier.


Guten Tag, Gruß Silvia



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