Freitag, 5. Februar 2021

5. Februar 2021 - Kurzgeschichte in 2 Teilen: "Im Waschsalon"- 1. Teil

 

Foto: S. B.


Im Waschsalon


Paul

Paulchen fehlte es nicht nur, all includet umsorgt zu werden, er vermisste auch das "chen" in seinem Vornamen. Nun gab es niemanden mehr, der ihn Paulchen nannte - denn dem Muttersöhnchen war sein Lebensinhalt plötzlich, aber mit immerhin 80 Jahren, gestorben.

Natürlich gab es ohnehin nicht viele Leute, die ihn Paul nannten - höchstens ein paar Verwandte. Im Büro nannte man ihn Herr Müller, und auch die Nachbarn begnügten sich mit seinem Nachnamen. Sein Vorname interessierte sie vermutlich überhaupt nicht. Paul hatte ziemlich am Tod seiner Mutter zu knabbern - so oft er ihre Überfürsorglichkeit im Leben auch als lästig empfunden hatte, bequem war sie allemal für ihn gewesen.

Sein ganzes bisheriges 50jähriges Leben hatte er mit seiner Mutter zusammengelebt, nun war er erstmals völlig auf sich allein gestellt. Und er fühlte sich wie ein Mann, der vom Leben vergessen worden war. Nicht erst jetzt, nach dem Tod seiner Mutter, war ihm klar, dass sie sein Leben außerhalb ihrer Nähe schon lange größtmöglichst ausradiert hatte. Weder hatte Paul Freunde noch eine Freundin oder je eine gehabt. Manchmal hatte er sich einer Frau genähert, aber so zaghaft, dass jede Frau längst weg war, bevor er zeigen konnte, welch ein liebenswerter Mensch er war.

Nun, nach dem Tod seiner Mutter, fühlte er eine Art von Erleichterung, für die er sich gleichzeitig schämte. Händeringend suchte er nach ihren guten Eigenschaften, um die in seinen Augen bösen zu verdrängen,  und wurde vordergründig auch fündig. Sie war ihm gegenüber immer voller Fürsorge und tiefer Liebe gewesen.

Konnte Liebe alles rechtfertigen?

Warum fühlte er sich allein gelassen, obwohl er sie gleichzeitig genießen wollte, diese nie gekannte Freiheit? Weil er nicht wusste, wie er mit seiner erstmaligen Freiheit umgehen sollte! Sie hatte ihn zu lange unter ihren Fittichen gehabt, und  er war darunter seelisch verhungert.

Es half nichts. Er musste seine Mutter unter die Erde bringen lassen - und bereits in diesem Akt brach er ein Versprechen: sie hatte sich eine Beerdigung in einem kostbaren Sarg gewünscht. Er ließ sie einäschern und in einem Friedwald bestatten.

Es war seine kleine Art von erstem Protest, den er zu ihren Lebzeiten nie zustande gebracht hatte. Er lächelte bei dem Gedanken daran, sich ihren Wünschen widersetzt zu haben. Hatte er das jemals zuvor fertig gebracht? Er konnte sich nicht erinnern. Aber nun bestimmte er, wo es lang ging ... nicht mehr sie. Allerdings bereitete dies ihm ein gehöriges Unbehagen - und er hoffte, er würde nicht vom nächsten Blitz getroffen werden, weil seine Mutter auch da oben ihre Finger im Spiel hatte ...


Lili

Lili war fremd in dieser Großstadt, aber nach all den Jahren, in denen sie nicht glücklich gewesen war, suchte sie einen Neuanfang in einem Ort, der sie an nichts von Früher erinnern würde, der ihr eine Chance bot und sie vielleicht ein kleines Glück finden ließ.

Lili fand, dass es für sie an der Zeit sei, einmal glücklich zu sein, aber sie war gar nicht mal sicher, dass sie ein Glück erkennen würde, wenn es ihr begegnete. Vielleicht lernte sie eine Freundin kennen, der sie vertraute - und würde am Ende doch wieder enttäuscht. Vielleicht traf sie einen Mann, der sich dann auch nicht als ein Glücksfall entpuppen würde.

Unglück kannte sie, daran war sie gewöhnt. Als sie vier Jahre alt war, kam ihr Bruder auf die Welt, um den sich fortan die gesamte Familie - nicht nur die Eltern, sondern auch die Großeltern und nahen Verwandten - drehte. Damals kam ihr irgendwann der Gedanke, dass sie überhaupt nicht wirklich in diese Familie gehörte und ein lästiges Anhängsel war, das man zwar fütterte und pflegte und einkleidete, aber um das man sich nicht wirklich kümmerte.

Zunächst hasste sie ihren Bruder dafür, dass er ihr den Rang ablief. Aber eigentlich mochte sie diesen knuddeligen kleinen Kerl ...

Im Alter von 11 Jahren erfuhr sie, wie Recht sie mit ihrem Verdacht, nicht dazuzugehören, hatte: man hatte sie als Baby adoptiert,

und völlig überraschend hatte sich drei Jahre später ein eigenes Kind ihrer Adoptiveltern angekündigt.

Im Alter von 14 Jahren rebellierte sie, um Aufmerksamkeit zu erregen, vorwiegend sollten sich ihre "Eltern" sorgen - aber das Gegenteil geschah. Sie gaben sie in ein Heim.

Mit 17 brannte sie mit einem Jungen durch, der ihr erstmals Liebe entgegenzubringen schien. Anfangs war das auch so, aber Lili entpuppte sich für ihn dann doch nicht als das Traum-Mädchen, das er in ihr gesehen hatte. Anstatt der Abenteuer-Lust zu frönen, versank sie in tausend Ängsten.

Sie war 20 Jahre alt, als die Mauer der DDR, ihrem weiteren Gefängnis, sich öffnete. Nun stand die Welt ihr offen, aber Lili verschlug es auf die sichere Seite einer Eheschließung mit einem anderen Mann, von dem sie sich Geborgenheit versprach.

Nun war sie 50 Jahre alt, zweimal geschieden und oft auf die Schnute gefallen. Kinder hatte sie keine, Hoffnung noch viel weniger.

Die Großstadt in Westdeutschland sollte ein Neuanfang sein. Sie fand Arbeit in einer Anwaltskanzlei und lebte ihr kleines Leben.


Begegnung

Lili lebte bereits seit zwei Monaten in der westdeutschen Großstadt, aber Bekanntschaften, außer denen mit ihren Kollegen, hatte sie noch nicht gemacht. Die Kollegen gefielen ihr zwar größtenteils, aber Freundschaften konnte sie sich mit keinem von ihnen vorstellen - und umgekehrt war es wohl genau so. Es passte fürs Berufliche, aber nicht fürs Privatleben.

Clubs besuchte sie nicht mehr, weil sie sich dafür als zu alt empfand. Zwischen Leuten, die halb so jung wie sie selber waren, wollte sie nicht herumhüpfen. Sie hoffte auf den Sommer, wenn sie in Straßencafes sitzen konnte - und vielleicht mit dem einen oder anderen Menschen ins Gespräch kommen könnte. Insgesamt wollte sie sich in Geduld üben, denn wirklich eilig hatte sie es ja nicht. Sie war glücklich in ihrer kleinen, gemütlichen Wohnung - und dass sie finanziell sorgenfrei war, genoss sie sehr.

Als ihre Waschmaschine den letzten Spülgang gemacht hatte und danach wohl auf ewig still sein würde, weil sie einfach kaputt von den vielen Waschgängen ihres Lebens war,

kam Lili die Idee, einen Waschsalon aufzusuchen. Sie musste sich erst einmal schlau machen, wo und ob es so etwas hier überhaupt gab. Aber sie hatte Glück, und einer war nicht einmal sehr weit von ihrer Wohnung entfernt. Mit einem Berg Wäsche und einem Buch unterm Arm lief sie zum Waschsalon ...


Paul hatte am selben Tag die gleiche Idee. Zwar verrichtete die Maschine seiner Mutter noch immer ihre Dienste, aber er erhoffte sich ein bisschen Abwechslung durch den Besuch eines Waschlokals. Das lag auch direkt an einer großen Straße, und er könnte viele Leute beobachten und noch mehr Autos sehen. Er würde ein bisschen meditieren, so lange seine Wäsche ihre Runden in einer Trommel drehte. Manchmal fühlte er sich verdammt einsam, und es gab Momente, in denen er seine Mutter vermisste. Alles in allem aber hegte er einen Groll auf sie und musste seine bisherigen Lebensjahre, die er gemeinsam mit ihr und weitgehend unter ihrer Aufsicht verbracht hatte, verarbeiten.

Er war nicht der Mann, der in Betracht zog, einen Psychologen aufzusuchen. Zwar lehnte er eine psychologische Betreuung durchaus nicht ab - aber er schämte sich: er schämte sich, dass er es nur durch den Tod seiner Mutter geschafft hatte, sich von ihr zu befreien. Er sah sich als Allround-Versager in dieser fast lebenslangen Beziehung. Und den Rest seines Lebens würde er benötigen, um ein halbwegs eigenes auf die Reihe zu bekommen.

Erst einmal bekam er das mit dem Waschautomaten nicht auf die Reihe. Um ihn abhängig zu halten, hatte seine Mutter ihm selbst die einfachsten Dinge aus der Hand genommen. Er fluchte vor sich hin,

als sich Lili näherte. Sie sahen sich in die Augen, und ...

bei keinem von beiden geschah etwas, das sie als Wink des Schicksals angesehen hätten.

Sie registrierten einander, mehr nicht. Lili bot  ihre Hilfe an, die er gerne annahm. Danach steckte sie ihre eigene Wäsche in eine andere Maschine und widmete sich ihrem Buch.

Paul beobachtete unterdessen den Verkehr und die Menschen, die draußen ihrer Wege gingen.

Erkennen einander zwei vom Leben vergessene Menschen? Kaum! Jeder von beiden war auf seine eigene Art vergessen worden, es gab keine Berührungspunkte - und da sie zunächst nicht miteinander sprachen, waren sie einander nur zwei Leute, die sich in einem Waschsalon begegneten.

Paul war ein Mann, der bedauerte, keine Geschwister gehabt zu haben. Mit einem Bruder oder einer Schwester wäre sein Leben anders verlaufen - es sind meistens Einzelkinder, die für Mütter zu einer Lebensaufgabe werden.

Lili bedauerte, dass ihre Adoptiveltern noch ein eigenes Kind bekommen hatten. Vielleicht wäre ihr Leben, auch, wenn sie ihren Bruder sehr liebte, ohne ihn anders verlaufen und die Liebe der Freiwillig-Eltern hätte ihr gegolten.

Selbstmitleid war nicht der richtige Weg - soviel wussten sowohl Paul als auch Lili. Zur gleichen Zeit hingen sie etwa ähnlichen Gedanken nach, während sie ab und an einen Blick auf ihre Wäsche warfen.

Paul beobachtete Lili schließlich ein wenig. So nah war ihm schon lange keine Frau mehr gekommen. Sie sah gut aus, fand er. Und schließlich machte er einen für ihn sehr verwegenen Vorstoß, wenn auch unter einem schwammigen Label. Er fragte Lili:

"Können wir uns vielleicht in einer Woche zur selben Zeit hier wiedertreffen? Ich habe so meine Probleme mit der Wäsche ... und Sie waren heute so freundlich, mir zu helfen"


Copyright Silvia Gehrmann
Fortsetzung folgt

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