Freitag, 1. Januar 2021

1. Januar 2021 -Dinner For One

 

Dinner For One

Die Kinder waren längst erwachsen und aus dem Haus. Er spielte Tennis. Sie lackierte sich die Fußnägel und ging jede Woche zum Friseur, um sich für ihren Mädelsabend zu präparieren. Große Sorgen quälten sie nicht,

aber nicht nur vielleicht war die Langeweile, die sie miteinander empfanden, eine Belastung.

Lockdown, und beide befanden sich im Home-Office. Jetzt hatte er viel Zeit, seine Fußnägel zu pflegen, und was er sich im Internet ansah, musste sie nicht mitbekommen.

Sie hing stundenlang am Telefon und wurde täglich mürber.

Nach dem Lockdown war vor dem Lockdown, und in der Zwischenzeit wurde das Leben für beide nicht wirklich kommunikativer, was die Außenbetrachtung desselben anging. Sie hockten aufeinander wie zwei Leute, die man zufällig in derselben Wohnung abgestellt hatte. Jeder verteidigte seinen eigenen Bereich wie ein Tierheimhund seinen Zwinger, den er als einzige Rückzugsmöglichkeit vor der schlechten Laune der anderen ansah.

Er entdeckte Seiten im Internet, von denen er nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Sie entdeckte ihre perfide Launenhaftigkeit. Trafen sie sich einmal - man muss schon sagen - zufällig im Flur, nahm der eine der anderen es übel (und umgekehrt), gleichzeitig dieselbe Idee gehabt zu haben ... und die Toilette benutzen zu wollen.

Sie wollte endlich wieder mit ihren vielen Freundinnen lachen können, er wollte, dass sie aufhörte, Selbstgespräche zu führen, die stets dahin führten, dass sie über irgendetwas fluchte. Das konnte er in seinem Zimmer hören.

Sie wiederum hörte ihn schnarchen, wenn er während seiner Office-Zeit vor dem Computer in einen tiefen Schlaf fiel.

So verging die Zeit, wie sie sonst nie verging: langsam. Sehr langsam.

Dann entschloss er sich, joggen zu gehen. Im Wald war das trotz Pandemie schließlich kein Problem. Er lief sich seinen Frust mit Hilfe seiner flotten Beine aus der Seele, aber der entspannte Zustand hielt nicht lange an.

Unterdessen drehte sie zu Hause die Musik auf volle Lautstärke und ließ raus, was dringend raus musste.

Wie schön für sie, dass er dann beim Joggen lang hinfiel ... und sich ein Bein brach. Ab ins Krankenhaus, ab in den Operationssaal ... Klinikaufenthalt inklusive.


Dinner For One

So lag er an Silvester im Krankenhaus. Sie musste ihn zum Glück - Corona sei Danke -  nicht besuchen und Besorgnis vortäuschen, wo keine vorhanden war. Er vermisste sie nicht.

Sie holte an Silvester ihre ältesten Klamotten aus dem Schrank, die sie eigentlich längst entsorgt haben wollte, schmiss sich rein, gönnte sich eine Schachtel Zigaretten, obwohl sie gar nicht mehr rauchte - und von der ersten Kippe wurde ihr derart schwindelig, dass sie tapfer weiter übte. So lange, bis der Schwindel verflog.

Dann öffnete sie eine der vorrätigen Sektflaschen. Der Korken flog durch ihre Sauerkraut-Locken. Warum ein Glas nehmen? Sie trank die perlende Flüssigkeit direkt aus der Flasche. Nebenher bestand ihr Festtagsschmaus aus einer Scheibe Brot und ein paar Tomaten.

Gegen Mitternacht war sie sehr betrunken, und die Zuversicht wuchs, dass sie im neuen Jahr endlich den längst fälligen Schritt gehen würde, ihn zu verlassen.

Es fiel ihr ein, dass sie das gleiche bereits in den letzten Jahren für jedes neue Jahr geplant hatte - dazu hatte es gar keine Pandemie gebraucht.

Doch ihr Wunsch nahm Umrisse an, die sie zuvor nie gesehen hatte. Sie lebte ein falsches Leben, er aber auch - soviel Gerechtigkeit empfand sie noch.

Sie lachte laut und tanzte nach der noch lauteren Musik. Plötzlich stolperte sie über eine am Boden liegenden Flasche ...

und brach sich ein Bein.

Im Krankenhaus fand die Stations-Schwester es passend, sie in sein Zimmer zu legen. Weglaufen konnten sie zumindest nicht mit ihren gebrochenen Beinen ... Shit happens ... oder?


Ein gutes Neues Jahr, Gruß Silvia 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen