Der letzte Lebensabschnitt meiner Oma
Wenn jemand, der sich stets um alle gekümmert hat, im Alter plötzlich selber Hilfe benötigt, stehen viele hilflos vor dieser Situation.
Leise schleichend hatte sich eine Demenz in dem Kopf meiner Oma breit gemacht. Zunächst waren es kleine Gedächtnisschwächen, die am Ende zu riesigen Lücken in ihren Erinnerungen wurden. Niemand konnte genau sagen, wann und wie es anfing, ins Krankhafte abzudriften. Josefine, die ihr Leben lang an allem interessiert war und auch politisch eine klare Meinung und Zuneigung empfand (damals für die CDU, und da war sie die einzige aus unserer SPD-Familie: wie geschrieben: damals, in den 1980er Jahren und vorher). Gemeinsam mit den anderen ältesten Familienmitgliedern
hatte sie unsere Sippschaft zusammengehalten. Die meisten ihrem Jahrgang ähnlich alten Leuten waren längst vor ihr von dieser Welt gegangen, eine wirkliche "Erbschaft" dieser Aufgabe, auch die verzweigten Äste der Familie unter einen Hut zu bringen, gab es nicht.
Von ihren eigenen drei Söhnen waren ihr zwei geblieben (Johannes, ihr ältester Sohn starb bereits im Alter von 21 Jahren lange, lange Zeit vor seiner Mutter), und ich war ihr einziges Enkelkind, denn auch mein Bruder war bereits tot, als Oma Josefine an Demenz erkrankte.
Sie war der einzige Großelternteil, den ich kannte. Silverius Schäfer, der Mann meiner Oma, war jung und lange vor meiner Geburt verstorben.
Trennung vom alten Leben
Sie lebte in einer kleinen Wohnung in Dortmund-Aplerbeck, ganz in der Nähe wohnte ihr Sohn Franz, der sie täglich besuchte. Auch ich besuchte sie oft, blieb auch manchmal über Nacht. Meine Eltern waren inzwischen von Dortmund an die Mosel gezogen - so dass sie ihren Sohn Josef und die Schwiegertochter Christel nicht mehr allzu oft sah. Aber die engen Verbindungen zu besonders ihren Söhnen und mir gingen nie verloren.
Man stellt sich auf einiges ein, wenn jemand bald das 80. Lebensjahr erreicht: dass der Mensch Hilfe braucht, weil er selber aufgrund von altersmäßigen Wehwehchen sich nicht mehr um alles allein kümmern kann ... aber auf eine
Demenz waren wir nicht vorbereitet. Sie war immer fit im Kopf gewesen, eine kluge, humorvolle und sehr bescheidene Frau. Und ihr Glaube gab ihr stets genau die Kraft, die sie brauchte, falls es wieder einmal nicht rund laufen wollte - oder gar Katastrophen wie der Tod ihre Sohnes, ihres Mannes und meines Bruders passierten, und sie an ihre Grenzen brachte ...
Diesen Glauben hat sie auch in der Demenz nie vergessen. Der Liebe Gott blieb ihr stets nahe. Denn Er hatte wohl einen besonderen, von jeder Krankheit unangreifbaren Platz in ihren nun meist unklaren Gedanken. Auch ihre Söhne und mich hat sie bis zum Ende immer zweifelsfrei erkannt.
Altersheim oder nicht ...?
Eine Weile wurde meine Oma im Haus meiner Eltern versorgt, aber meine Mutter war mit der Situation überfordert. Die Demenz war nun deutlich zutage getreten: Oma erzählte zwanzigmal am Tag die gleiche Geschichte oder stellte immer wieder dieselbe Frage. - Sie war auch eine Zeitlang bei ihrem Sohn Franz und seiner Frau - und auch dort konnte sie nicht bleiben.
Wie heißt es: Eine Mutter kann 10 Kinder versorgen, aber 10 Kinder nicht eine Mutter!
So simpel ist es aber nicht.
Ich möchte niemanden verurteilen, denn alle vier waren gewillt, sich um die Mutter und Schwiegermutter zu kümmern - und ich war stets nur zeitweise dabei und bekam nicht die Gipfel der Demenz mit.
Schließlich wollte ich Oma Josefine zu mir nehmen, was mit erheblichen Einschränkungen meines eigenen Lebens verbunden gewesen wäre. Aber ich war jung, ich war willig - und auch geduldig genug. Sie hatte sich mein Leben lang um mich gekümmert, jetzt sollte es eben andersrum sein.
Das jedoch ließ mein Vater nicht zu, überhaupt nicht: er wollte nicht, dass ich mein eigenes Leben aufgebe, um mich um sie zu kümmern. Das war ein Machtwort, und die Machtworte meines Vaters habe ich stets
ernst nehmen müssen.
Im Altersheim
Schließlich lebte sie in den letzten Lebensjahren in einem Altersheim in Dortmund. Mein Onkel Franz besuchte sie dort täglich,
ich, die ich nicht mehr in Dortmund wohnte, einmal in der Woche.
Sie blieb bis zuletzt im Jahre 1986 - und bis heute - meine geliebte Oma, die, wenn es überhaupt möglich war, immer sanfter wurde - obwohl man z. B. Alzheimer-Kranken Aggressionen zuschreibt. Es ist auch nicht ganz sicher, an welcher Form der Demenz sie litt. Nicht sicher ist es auch,
wie viele klare Momente ihr dieses Dilemma selber vor Augen führte, denn manchmal hatte ich das Gefühl, sie selber glaubte, allen nur zur Last zu fallen. Das hatte sie nie gewollt, das äußerte sie auch manchmal mir gegenüber.
Aber leider hat es kein Mensch in der Hand, welche Krankheit ihn irgendwann an seine Grenzen und darüber hinaus bringt.
Es war eindeutig, dass sie "heimgehen" wollte, wie sie es nannte. Dieser Wunsch erfüllte sich allerdings erst nach einigen Jahren. Sie ist mit 84 Jahren
friedlich eingeschlafen und nicht mehr wach geworden.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen