Freitag, 5. Juni 2020

5. Juni 2020 - Kurzgeschichte "Louises Geheimnis" - 3. Teil


Kurzgeschichte in 3 Teilen
3. Teil
Louises Geheimnis

Eigentlich wollte Celia über Silvester und Neujahr nach Italien reisen, aber im Hotel wurde ihre Hilfe so dringend benötigt, dass sie schweren Herzens auf eine Heimreise verzichtete.

Das veranlasste Louise zu einer Silvester-Einladung in ihre kleine Wohnung, obwohl sie nicht wusste, ob Celia alternativ nicht Besseres vorhatte. Zu ihrer Freude, aber auch einem wenig Erstaunen, sagte Celia gerne zu. Zwar verstand Louise nicht wirklich, warum eine so junge Frau ausgerechnet mit ihr diesen Tag verbringen wollte -

aber andererseits nahm sie es dankbar an.

Celia ihrerseits war begeistert von dieser alten Frau, die so viel Lebenserfahrung hatte, von der sie ihr einen Teil vermitteln konnte, ohne dass sie selber auf eigene Erfahrungen warten musste. Vielleicht würde sie einige dieser Erfahrungen später selber machen - und dann vermutlich an Louisa zurück denken, um ihr vielleicht Recht oder auch Unrecht zu geben. Sie lauschte gern Louisas Erzählungen, die vom Leben sprachen, ohne dass sie sich selber in den Mittelpunkt stellte.

Mit 2 Flaschen Champagner bewaffnet kam Celia gegen 17.00 Uhr des Silvestertages bei Louise an. Es war ihr erster Besuch in deren Wohnung, und ein bisschen alkoholische Munition konnte den Abend und die Nacht nur bunter machen.

Aber auch Louisa hatte vorgesorgt: Es gab genügend Sekt-Vorräte, und zum Eintritt in den Abend hatte sie ein Fondue vorgesehen.

Um die letzten Vorbereitungen fürs Fondue abzuarbeiten, ging sie in ihre Küche und ließ Celia allein im Wohnzimmer bei Radioklängen zurück.

Sie hörte in der Küche die alten Klassiker, die der Sender spielte - und freute sich auf diesen Abend. Es fühlte sich für sie an, als hätte sie eine neue beste Freundin gefunden - auf die sie so lange Zeit gehofft hatte. Kurze Zeit dachte sie nicht an ihr ganz persönliches Schicksal - oder auch ihr Geheimnis - und ging summend ins Wohnzimmer zurück, bewaffnet mit einigen der Zutaten fürs Fondue.

Celia blätterte in einem Fotoalbum, das sie aus dem Regal gefischt hatte  ... einem, dessen Einband beinahe schon in Fetzen herunter hing ... und die junge Frau sah die

alte Frau fragend an.

Louise setzte sich neben Celia.

War nun der Tag doch noch gekommen, an dem jemand, der ihr nahe stand, ihr Geheimnis aufdeckte? Der Tag, den sie seit 50 Jahren herbei sehnte?

Sie musste Celia die Rückschlüsse überlassen und blieb daher ganz still neben ihr sitzen.

"Das ist ein Foto von dir", meinte Celia, "ich erkenne dich in dem Mädchen wieder. Aber das ist doch eigentlich unmöglich ... unter dem Foto steht

Louise, 1914, mit 13 Jahren."

Louise stand auf und schenkte ihnen je ein Glas Champagner ein. Dann setzte sie sich mit gemischten Gefühlen wieder neben ihre neue Freundin, und sie prosteten sich zu. Wie gewonnen, so zerronnen, dachte Louise,

denn sie war traurig, dass ihre Freundschaft von nun an nicht mehr lange dauern würde. Aber es war gut, es war mehr als an der Zeit,

dass jemand ihr Geheimnis lüftete.

"Ja, das bin ich, Celia. Ich bin nun 119 Jahre alt."

Celia sah sie nur an, und sie legte ihren Arm um die nun bekennend uralte Frau, die höchstens wie 70 Jahre alt aussah. Sie wollte nichts sagen, noch nicht, denn sie spürte, dass Louise nun sprechen würde:

"Ich hatte mit 70 Jahren, vor beinahe 50 Jahren, einen Autounfall. Ich saß am Steuer, mein Mann neben mir. Er starb ...

ich lag eine Woche lang im Koma."

Einen Moment lang schwieg sie, als wolle sie doch noch am Leben festhalten, irgendwie ... aber ihr Geheimnis war entdeckt worden, und ein

derart langes Leben hatte niemand verdient. Es war kein Zusatz-Geschenk, es war eine Qual, so alt zu werden ... alle anderen waren bereits vor langer Zeit gestorben, es gab niemanden mehr für Louise, als diese junge Frau. Und wenn es völlig falsch gelaufen wäre, hätte sie diese auch noch überlebt.

"Im Koma hatte ich einen Traum: Jemand, den ich nicht sehen konnte, sagte mir, dass mein Autounfall kein Unfall, sondern eine Suizid-Absicht gewesen sei ... Ja, ich wollte damals meinen Mann und mich töten, weil seine Demenz unerträglich wurde."

Celia drückte die Hand der alten Frau.

"Es wurde beinahe täglich schwieriger mit ihm. Und ich sah irgendwann nur noch diesen einen Weg. Leider habe ich überlebt ...

aber: Diese Stimme sagte mir damals noch etwas."

Zum ersten Mal überhaupt sprach Louise über den "Unfall". Selbst damals hatte sie nicht darüber sprechen müssen, weil niemand Zweifel an dem Unfallgeschehen gehabt hatte.

Es dauerte ein paar Minuten, bevor Louise weiter sprechen konnte: "Diese unsichtbar bleibende Stimme sagte mir, dass ich nun so lange leben müsse,

bis jemand, der mir nahe steht, durch Zufall hinter mein Geheimnis kommt. Und das könnte sehr, sehr lange dauern, verhieß mir diese Stimme ... Es klang wie eine Strafe. Und ich sage dir: Es ist eine Strafe gewesen.

Zunächst wurde ich wieder gesund, und ich dachte: Das ist ja alles Quatsch! Aber die Jahre gingen ins Land. Ich war nie krank, ich wurde immer älter. Und älter und älter, aber nicht im Spiegel, nicht für die anderen ... dafür ist ein Mensch nicht geboren, derart alt zu werden."

"Und nun?" fragte Celia.

Louise drückte sie an sich: "Nun darf ich endlich bald gehen. In mein Heimweh-Land. Du hast mir das möglich gemacht."

Es wurde eine lange Silvester-Nacht für die beiden Frauen.

Celia nahm aus dieser Nacht einen Erfahrungs-Schatz fürs Leben mit.

Louise starb drei Monate später, sie schlief ganz friedlich ein.


Ende
Copyright Silvia Gehrmann

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