Mittwoch, 3. Juni 2020

3. Juni 2020 - Kurzgeschichte - "Louises Geheimnis" - 1. Teil


Louises Geheimnis

Louise strich durch die Stadt, aber sie machte nicht einfach nur einen Stadtbummel, sie suchte einen Job. Keinen anspruchsvollen, keinen, für den man ihren Ausweis und auch sonstige Papiere verlangen würde.

Sie wollte einfach wieder arbeiten, um ihren Tagen Struktur zu geben und der Langeweile die Nahrung zu nehmen.

Früher war sie Bibliothekarin, aber das war wirklich sehr viel früher. Früher, das war die Zeit, als ihr Mann noch lebte. Manchmal verlor sie sein Bild vor ihren Augen und erinnerte sich nicht an seine Haarfarbe. Dann musste sie eines der vielen Fotoalben aus dem Schrank fischen, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, dass sie so vieles vergessen hatte, auch vieles, was ihn betraf. Er war ein guter Mensch gewesen,

ein Mann, auf den sie sich immer verlassen konnte. Er war der Humorvolle von ihnen beiden gewesen, und er umgab sich oft und gern mit vielen Freunden. Eigene Kinder hatten sie nicht, und somit gab es auch keine Enkelkinder. Die Freunde waren irgendwann auch alle verschwunden.

Louise, nun ziemlich allein zurück geblieben, wusste manchmal nicht, wie sie ihre Zeit totschlagen sollte und mit ihr diese eingekerkerte Ödnis.

Daher kam ihr die Idee, sich einen Job zu suchen. Sie war alt, aber noch fit. Sie konnte sich mühelos mehrere Stunden hintereinander auf den Beinen halten, und einen anspruchslosen Job würde sie bestens erledigen können.

Sie schaute in die Schaufenster von Geschäften und Restaurants und Hotels, ob dort jemand gesucht würde - und ob das Gesuchte ihren Vorstellungen entsprach. Wie gesagt, sie wollte weder ihren Pass noch sonstige Papiere vorzeigen müssen.

Sie war bereits seit zwei Stunden unterwegs, als sie in einem kleinen Hotel in einem der Fenster einen hastig hingeschriebenen Zettel entdeckte, der auch noch recht oberflächlich formuliert war:

"Suchen fürs Frühstückmachen eine Frau."

Na, das ist es doch, dachte Louise. Hier waren keine peniblen Leute am Werk, die zuviel wissen wollten und sie vielleicht sogar beim Finanzamt anmeldeten. Vermutlich wären sie froh, wenn jemand schwarz für sie tätig wurde. Schreibkram schien ihnen ohnehin nicht zu liegen.

Eine halbe Stunde später war Louise in einem Gespräch, das zwischen Küchentür und Theke stattfand. Die Frau, mit der sie sprach, hieß Rosi Schmidt. Und irgendwie sah sie auch wie eine Rosi Schmidt aus. Sie war blond, ein Blond, dass sie sich garantiert alle paar Wochen selber in die Haare massierte, von einer etwas kräftigen Statur, und Rosi sah freundlich aus.

Rosi sah in Louise eine ältere, gepflegte Frau, die auf sie wirkte, als könnte sie die Dinge anpacken, die zu erledigen waren.

"Sie sind doch schon mindestens 70 Jahre alt", meinte Rosi etwas zögerlich zu ihrem Gegenüber.

Louise nickte. Ja, viele hielten sie für 70. Gut so.

"Ich bin aber noch sehr fit und Frühstück zuzubereiten, würde mir sicherlich Spaß machen."

"Ich kann auch ein paar Tage zur Probe morgens arbeiten", bot sie noch schnell an.

Dass sie das mit dem Probearbeiten selber anbot, gefiel Rosi, denn sie hätte diese ältere und auch recht elegante Frau kaum darum bitten mögen. Es wären Hemmungen im Weg gewesen.

Louise ihrerseits hätte auch völlig umsonst gearbeitet, denn ihr ging es nicht ums Geld, wenn das Ersparte auch längst aufgebraucht war und sie allein von ihrer Rente und Witwenrente lebte. Was sie zum Leben hatte, reichte ihr.

Sie hatte zwar bereits vor Jahren überlegt, auf ihre Rente zu verzichten ... allerdings rechnete sich dies leider nicht. Und sie hätte auch nicht gewusst, wie sie diesen Verzicht anstellen sollte. Andererseits war sie dort eine Nummer und bislang noch niemandem, auch keinem Computer-System, aufgefallen.

Ziemlich guter Laune ging Louise zurück zu ihrer Wohnung. Heute war ein guter Tag, dem hoffentlich viele gute folgen würden,

denn sie langweilte sich nicht. Sie sah nicht die endlosen Stunden vor sich, von denen sich bereits die Sekunden wie Ewigkeiten hinzogen. Sie hatte eine Aufgabe, wenn auch nur eine kleine,

sie hatte eine Aufgabe!

Das machte sie so froh, dass sie ein altes Lied summte:

"Bis früh um Fünfe, kleine Maus ..."

Und um fünf Uhr am nächsten Morgen begann sie ihre Arbeit in der Hotel-Küche.

Fortsetzung folgt
Copyright Silvia Gehrmann


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen