Samstag, 8. April 2023

8. April 2023 - Im Jahr 2062 ...



Im Jahr 2062 ...

Julia war ein Kind ihrer Zeit, selbst ihrem Vornamen nach, denn in den 1990er Jahren gehörte Julia zu den beliebtesten Vornamen für Mädchen. Geboren wurde Julia 1992, und nun, im Jahre 2062, ist sie 70 Jahre alt und "jünger" als jemals zuvor.  In der Liste ihrer Liebschaften befinden sich drei Kevins, zwei Lukas und vier Jans. Verheiratet war sie schließlich 10 Jahre mit einem Tim, bevor er sie an einem Tag im April irgendeinen Jahres  verlassen hat, weil er sie nicht mehr wiedererkannt hat.

Das ging vielen Männern so, als der große Run auf die Schönheitschirurgie begann - und bevor die Männer es den Frauen gleichtaten: Dumpingpreise und Rabatte waren ein guter Grund, in die Materie einzusteigen. Nach 9 Behandlungen gab es 1 Anwendung gratis: zum Beispiel eine Händestraffung oder eine neue Stupsnase. Manchmal auch einen "Kunstfehler" ...

Viele aus Julias Generation studierten nur aus dem Grund Medizin, um sich später an dem warmen Fluss der Geldwäsche erfreuen zu können: immer mehr spezialisierten sich auf die Chirurgie zur ultimativen Verschönerung. Hals-Nasen-Ohrenärzte blieben auf der Strecke ... man muss 2062 lange suchen, bevor man einen Orthopäden findet, obwohl diese in der Lage sind, Leuten die Knochen zu brechen, um dann ihre Beine zu verlängern.

Julia läuft durch die Stadt, und sie sieht nur junge Leute, jedenfalls sind sie auf jung operiert und modisch getrimmt. Schlauchbootlippen waren zwar ein Jahrzehnt lang verpönt, aber 2062 sind sie wieder voll im Kommen. Die Menschen sind älter geworden, und mit dicken Lippen kann man die Blicke von anderen Schwachstellen ablenken. Auch die letzten Schwachstellen werden

in 2062 in völkergroßem Umfang in Fließbandarbeit operiert.

Die oberflächliche Welt ist das Lebensziel, denn ernst genug war die Welt lange genug. Und man ist nur einmal jung - und das möglichst so lange es geht.

Nur noch an Kindern kann man wahres Alter ablesen - aber bereits ab ihrem 14. Lebensjahr wünschen sie sich zu Weihnachten, zum Geburtstag oder einfach mal zu Ostern eine Auffrischung des doch ohnehin noch Frischem ... bevor es verwelkt, ist die These.

Flaniert Julia durch die Stadt, erkennt sie an vielen anderen Leuten die Handschrift ihres eigenen Schönheits-Docs. Das ist kein Problem, Hauptsache, sie findet sich schön ...

Es zwicken zwar die Gelenke und die Highheels sehen an ihr aus, als wären sie Schiffe auf hoher, stürmischer See, aber zum Glück ist der Blick in den Spiegel ein gefälliger. Sie muss nur ein bisschen Entfernung zum Spiegel einhalten, sonst verschwimmt das schöne Bild vor ihren alten Augen - und so ganz aus der Nähe sieht man

die vielen Reparatur-Schäden im Gesicht. Das wiederum kommt der Make-up-Branche zugute, denn all die Schäden müssen täglich mächtig zugekleistert werden.

Dann fällt ihr ein uraltes Fotoalbum in die Hände, eines ihrer Großmutter: die hat lächelnd all ihre Falten getragen und war augenscheinlich auch noch stolz darauf. Heute in 2062 undenkbar - wer nicht jung sein will und nicht alles dafür tut, ist nicht im Fluss der Zeit.

Doch die TÜV-Untersuchungen werden von Jahr zu Jahr beschwerlicher und zeigen Mängel, die man nicht mal eben chirurgisch beheben kann.

Als Julia dann auch noch bemerkt, dass ihre Enkelkinder weder ihren Eltern noch ihr ähnlich sehen, weil ja weder ihre Kinder noch sie selber eine Ahnung davon haben, wie sie im Original-Zustand aussehen würden,

gerät sie ins Grübeln ... Das jedoch vergeht ihr schnell, denn sie hätte beinahe vergessen, dass sie einen Termin beim Doc hat, der wieder einmal unbedingt seine Hände an ihr anlegen soll.


Guten Tag, Gruß Silvia

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