Er hatte seinem kleinen Mädchen die blonde Locke noch rechtzeitig abgeschnitten, bevor ihr Haar nachdunkelte und die Locken einem glatten Haarschopf wichen.
Das Büschel steckte er in seine Brieftasche. Und jedesmal, wenn er sich eine neue kaufte, musste auch die Locke umziehen. Bis zu seinem viel zu frühen Lebensende verweilte sie dort, und bei jeder Geldausgabe fiel sie in seinen Blick.
Wie lieb und brav doch sein kleines Mädchen war. Und wie die Zeit es verändert hatte. Es fing mit der Pubertät an, in dem sie ihrem inneren Teufel eine lange Leine ließ. Auch als erwachsene Frau war sie noch immer einer der wenigen Menschen, die fähig waren, ihm Kummer und Sorgen zu bereiten.
Aber er warf einen Blick auf die blonde Locke - und ihm war klar: Vater und Tochter konnte auch kein Streit trennen,
das war ein Bund fürs Leben. Und darüber hinaus.
Die Jahre gingen ins Land und verringerten seine eigenen zu erwartenden Lebensjahre. Nicht sein kleines Mädchen hatte ihn sehr krank gemacht,
sondern die Erinnerungen an den 2. Weltkrieg, in den er als Kind ziehen musste, um vom Vaterland noch das zu retten,
was sowieso nicht mehr zu retten war.
Es folgten Magengeschwüre und eine Billroth II-Operation. Es folgten andere Krankheiten, die wiederum auf seine Dachdecker-Tätigkeit (bei Hoesch in Dortmund) in Verbindung mit Asbest zurückzuführen waren.
Er starb mit 66 Jahren, obwohl nicht nur sein "kleines Mädchen" ihn noch dringend gebraucht hätte. Zu den letzten Habseligkeiten, die man seiner Frau aus dem Krankenhaus mit nach Hause gab, gehörte
die Geldbörse mit der blonden Locke.
Es war eine Locke von meinem Haar. Abgeschnitten, als ich etwa ein bis zwei Jahre alt war.
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