Sonntag, 3. Juli 2022

3. Juli 2022 - Kurzgeschichte in 3 Teilen: "Der Obdachlose" Teil 3


Kurzgeschichte in 3 Teilen
Teil 3
Der Obdachlose

"Es wäre schön, wenn du diese Nachricht nicht gleich begießen würdest", sagte John schnörkellos, aber hoffnungsvoll.

"Ich weiß", antwortete Daniel, "wenn ich so weiter saufe, komme ich nie wieder aus dieser Gosse heraus."

"Gut, Kumpel, wenn du das nicht nur weißt, sondern auch beherzigst", John klopfte ihm aufmunternd auf die schmal gewordene Schulter.


Susi und Jule

Jule hatte Susi auf der Homepage des örtlichen Tierheims entdeckt, und für sie war es Liebe auf den ersten Blick. Es traf sie wie ein Blitzschlag, und insofern war es nicht anders, als wenn zwei Menschen sich begegneten und sofort klar war, dass da etwas zwischen ihnen passierte, dem man dringend auf den Grund gehen sollte.

Jule telefonierte mit einer Tierheim-Mitarbeiterin und zwei Tage später durfte sie Susi zum ersten Mal live erleben. Die Kleine fremdelte und lief aufgeregt hin und her. Auf die ersten Bestechungs-Versuche mittels einiger Leckerchen reagierte Susi nicht. Sie lief und lief im Kreis. Aber nach etwa einer Viertelstunde schien es der Hündin dann doch zu anstrengend, sich gegen die Annäherungsversuche dieser fremden Frau zu stemmen - und sie nahm gnädig ein paar Leckerchen aus ihrer Hand.

Insgesamt war Jule noch fünf weitere Male im Tierheim, um Susi besser kennenzulernen - und natürlich insbesondere, damit Susi sie besser kennenlernte. Sie ging mit der Malteser-Hündin spazieren und spielte mit ihr. Nach dem dritten gemeinsam verbrachten Nachmittag sah Susi ihr lange hinterher, und das war ein gutes Zeichen. Die Hündin würde sich bei Jule wohlfühlen - und Jule hatte sich ebenfalls für genau diesen Hund qualifiziert.

Sie hatte sogar im Vorfeld geklärt, dass sie Susi mit in ihr Büro nehmen durfte. Einer glücklichen gemeinsamen Zukunft stand nichts im Wege.

In den nächsten Wochen wuchsen beide mehr und mehr zusammen und wurden ein Team. Auch im Büro fühlte Susi sich wohl, denn sie hatte es in Nullkommanichts geschafft, dass alle sie mochten und sie gerne streichelten. Susi im 7. Himmel? 

Manchmal fragte Jule sich, wie wohl ihr früheres Leben ausgesehen hatte. Viel wusste sie darüber nicht. Den Rest reimte sie sich mal in dieser oder in jener ausgedachten Geschichte zusammen.



Der große Zufall

Gibt es Zufälle? Oder folgt alles in jedem einzelnen Leben einem ausgeklügelten Plan? Und half der Wunsch, jemanden rein zufällig zu treffen, diesen wahrwerden zu lassen? Oder stand der Wunsch dem Wahrwerden eher entgegengesetzt gegenüber?

Daniel glaubte nicht an einen großen Plan. Er war nicht gläubig. Er lebte in einer Großstadt - es war nicht anzunehmen, dass ihm Susi rein zufällig über den Weg lief. Außerdem könnte sie nun in jeder anderen Stadt leben. Er musste sich damit abfinden: sie war weitervermittelt worden und lebte nun mit einem anderen Menschen zusammen. An seinen guten Tagen hoffte er, dass sie sich wohl und glücklich fühlte - an einigen anderen, schwarzen Tagen fragte er sich, warum Susi glücklich sein sollte, wenn er selber nur noch unglücklich war. Er war ob dieser bösen Gedanken stets enttäuscht über sich selber. Er hatte die Obhut über die kleine Hündin gehabt, und es war nicht ihre Schuld, dass sie mit ihm auf den Straßen gestrandet war, es war seine Schuld. Er hätte im Vorfeld genug dagegen tun können, hatte aber alles unterlassen und war somit in diese missliche Lage gekommen.

An einem recht sonnigen Apriltag 2022 wanderte er durch die Innenstadt. Er lief gerne, denn wenn er lief, musste er nicht trinken. Der Alkohol hatte inzwischen einen recht hohen Stellenwert in seinem verpfuschten Leben. Oft ekelte er sich vor sich selber. Manchmal kam er sogar zu der Einsicht, alles selbst verschuldet zu haben - oft aber hatte er nur Selbstmitleid und fluchte innerlich über alles und jeden. Als wären andere Menschen schuldig an seinem Dilemma!

Plötzlich hörte er jenes schrille Stimmchen hinter sich, das er nur zu gut kannte ... sie hatte immer geschrien, wenn ihr etwas besonders gut gefiel, sie aufgeregt war oder etwas tun wollte, woran sie gerade von der Leine gehindert wurde.

Daniel dreht sich um - und sah Susi, die stark an einer Leine zerrte, die eine Frau in den Händen hielt. Er hockte sich auf den Boden und breitete die Arme aus, und tatsächlich lief die Frau samt Susi (oder war es eher umgekehrt?) auf ihn zu. Dann gelangten sie zu ihm und Susi sprang in seine Arme. Vor lauter Glück rollte sie sich wild in seinen Armen und leckte ihm Gesicht und Hände ab.



Ende
COPYRIGHT Silvia Gehrmann

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