Samstag, 2. Juli 2022

2. Juli 2022 - Kurzgeschichte in 3 Teilen: Der Obdachlose - Teil 2


Kurzgeschichte in 3 Teilen
Teil 2
Der Obdachlose

Innerhalb von wenigen Monaten war aus dem gutaussehenden Schauspieler Daniel ein recht verlotterter Typ geworden, der nun nicht mehr darauf hoffte, dass Passanten ihn erkannten. Er wollte unsichtbar sein und zog stets ein Käppi weit ins Gesicht. Das einzige Glück in seinem absoluten Tiefpunkt war Susi. Aber nun war auch das vorbei, denn

im letzten Oktober, hatte er sich aus Liebe von ihr getrennt. Manchmal sah er in dieser Trennung eine Art Heldentat eines guten Menschen, aber es gab auch Tage, an denen er bereute, sie im Tierheim abgegeben zu haben. Diese Tage nannte er insgeheim seine "egoistischen", und um sich selber diese Eigensucht auszutreiben, griff er dann regelmäßig zur Flasche. "Irgendwann kommen alle an die Flasche, die meisten von uns hingen schon vor der Obdachlosigkeit dran", erklärte ihm ein langjähriger Obdachloser, der ihm auch sonst wenig Hoffnung auf eine Kehrtwende vom Leben auf den Straßen machte.

Daniels Abstieg begann, als er aufhörte, wichtige Briefe zu öffnen ... weil er die in ihnen enthaltenen Geldforderungen lieber in die Spielbank brachte. In einer seiner nüchternen Nächte auf der Straße, die immer seltener wurden, bekam er eine genaue Idee davon, wie und warum in seinem Leben alles schief gelaufen war.

Vielleicht hatte er sogar den falschen Beruf gewählt, weil der eher seinen Träumereien entsprach - und er seit jeher ein eitler Gockel gewesen war.  Immer hatte er von dem großen Durchbruch geträumt - als Schauspieler und ebenfalls als Spielsüchtiger. Beides war nicht passiert.

Manchmal bat er einen Passanten, in sein Smart-Phone sehen zu können - und manchmal wurde ihm diese Bitte sogar erfüllt: dann guckte er auf der Seite des Tierheims nach Susi. Sie lebte noch im Heim und war noch nicht vermittelt. Danach war er immer recht gut gelaunt und machte Pläne für die Zukunft, in der er auch Susi zurückholen würde ...

Es hatte Frauen in seinem Leben gegeben: einige hatte er nach seinen geringen Möglichkeiten geliebt, mit den meisten nur Sex gehabt. Er hatte sie allesamt vergessen und konnte sich an keine Einzelheiten oder gar an ihre Gesichter erinnern. Seine Oberflächlichkeit kannte nur eine einzige Ausnahme: Susi. 


Ein Tiefpunkt

Es war März 2022 geworden, und die größte Kälte war vorbei. In seinen alkoholfreien Nächten träumte er von Susi, in den anderen versuchte er mit reichlich Fusel diese Träume schon im Vorfeld zu vernichten. Er musste sich das kleine Hundemädchen aus dem Kopf schlagen.

Vor ein paar Wochen hatte er die Bekanntschaft von John, dem Betreiber eines Frühstück-Cafes gemacht. Hier durfte er sich aufwärmen oder einfach nur im Trockenen sitzen, soviel Kaffee trinken wie er wollte, und ein reichhaltiges Frühstück war auch drin. John "kannte" Daniel, denn seine Frau, die ihn inzwischen verlassen hatte, hatte eine Serie geguckt, in der Daniel eine Weile mitgespielt hatte. Wohl oder übel hatte er damals die eine oder andere Folge mitgucken müssen. Aber John erzählte Daniel nichts von seinem Wissen, denn er wollte ihn nicht in Verlegenheit bringen. Und Daniel selber zog es schon lange vor, seinen Beruf überhaupt nicht mehr zu erwähnen.

Manchmal setzte John sich zu seinem Gast - der ja nun wirklich ein Gast, und zwar kein zahlender war - und sie unterhielten sich. Meistens über Belangloses. Manchmal sprach John über Susi, aber nach einer Weile versagte ihm stets die Stimme.

Hat er Mitleid mit sich selbst oder mit Susi, dachte John. Er kannte die Menschen, und sie waren nie nur gut oder nur böse und nie nur egoistisch oder ganz frei davon.

Inzwischen war mit Daniel eine kleine Veränderung vorgegangen. Er spielte privat schon längst keine Rolle mehr, die ihm gerade in den Sinn kam und die andere beeindrucken sollte. Es gab schließlich auch nichts mehr, mit dem er andere beeindrucken konnte, weil sein "Bühnen-Outfit" zu keiner erfundenen Geschichte gepasst hätte.  Außerdem hatte er endlich in seinem Leben, und er war fast 50 Jahre alt, Bescheidenheit verinnerlicht. Zumindest soviel Bescheidenheit wie er es für sich für möglich hielt.

John ließ ihn auch regelmäßig nach Susis Tierheim-Status sehen. Bislang hatte sie keine neuen "Besitzer" gefunden, und obwohl es vielleicht doch egoistisch war, freute Daniel sich.

Mitte März 2022 sah das anders aus. Auf der Homepage des Tierheims stand, dass Susi vermittelt worden sei.

Daniel riss die Augen weit auf, und John wusste sofort, was geschehen war - nämlich das Beste, was Susi passieren konnte. Das musste Daniel allerdings völlig anders sehen.


Fortsetzung folgt im 3. und letzten Teil
COPYRIGHT Silvia Gehrmann 

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