Samstag, 6. August 2022

6. August 2022 - Eine alte Frau namens Ella




Eine fiktive, aber
keine unwahre Geschichte

Eine alte Frau namens Ella

Es ist der 22. Juli 2022. Ella dreht ihren letzten neben ein paar sehr kleinen Münzen verbliebenen 10-Euro-Schein durch die Hände. Sie ist 83 Jahre alt, und lebt, wie es sich viele Menschen überhaupt nicht vorstellen können "von der Hand in den Mund". Ihre Rente ist klein, denn in manchen Jahren hat sie nicht wirklich darauf geachtet, durchgehend rentenversichert berufstätig zu sein.

Viele Jahre hat sie sich um die Kinder ihres Bruders gekümmert. Sie - ohne eigene Kinder und unverheiratet geblieben - hatte es gern getan. Der Bruder unterstützte sie finanziell in dieser Zeit und ihr Leben war perfekt und ausgefüllt.

Ihr Bruder war längst verstorben, die Schwägerin auch, und seine nun erwachsenen Kinder sah sie nur hin und wieder zu besonderen Gelegenheiten. Niemals würde sie ihnen von ihrer kleinen Rente erzählen oder davon, dass sich nun entscheiden musste,

was sie an diesem 22. des Monats Juli mit den verbliebenen 10 Euro anstellen sollte. Sie hatte noch ein paar Dosenvorräte im Schrank, ein halbes Brot im Kühlschrank und ein bisschen Käse. Das war alles, das musste sie sich gut einteilen bis die nächste Rentenzahlung kommen würde.

Noch wusste sie nicht, wie hoch die zu erwartende Stromrechnung sein würde - und wie diese ab Herbst noch steigen würde. Und überhaupt keine Ahnung hatte sie, was sie die künftige Heizperiode kosten würde. Die Überraschungen in dem Billig-Supermarkt, in dem sie einkaufte, gaben ihr schon einmal einen traurigen Einblick in künftige weitere Teuerungen: außer dem absolut Lebensnotwenigen - und manchmal nicht einmal mehr das - kann sie sich nichts mehr leisten.


Ella setzt 10 Euro

Als junge Frau war sie ein paarmal mit einem Freund in einem Spielcasino gewesen. Daran denkt sie, als sie die 10 Euro hin und herdreht und gleichzeitig weiß, dass das Geld - für was auch immer - viel zu wenig sein würde. Sie macht sich

hübsch, weil sie glaubt, hübsche Menschen haben mehr Glück auf ihren Seiten als Menschen, denen ihr Äußeres gleichgültig ist. Ella weiß aber auch, dass ihre kleine Maskerade ihr mehr Selbstsicherheit vermittelt. Sozusagen hat sie sich den Siegeswillen in ihr Äußeres geschmiedet.

Doch was nützt die Selbstsicherheit, wenn sie nicht gleichzeitig auch fähig ist, den "einarmigen Banditen" zu bezirzen? Der ist einfach nur grundböse - und auf seinen Besitzer, dem Casino-Betreiber, bezogen und ihm allein verpflichtet. Der hat auch keine Augen, um die bezaubernde Alters-Anmut von Ella zu erkennen.

Gnadenlos steckt er ihre letzten 10 Euro ein, ohne ihr dafür irgendetwas zurückzugeben ...


Ellas Zukunft

In der Vergangenheit hatte Ella gelernt, mit wenig Geld auszukommen - und in vielen Monaten hatte es zum Ende hin düster ausgesehen. Aber sie konnte sich und vor allem ihren Speiseplan den dürftigen Einkünften anpassen.

Hauptsache, die Miete war bezahlt. Hauptsache, der Strom war bezahlt.

Beides war bisher übersichtlich gewesen. Diese vertraute Übersichtlichkeit würde in Zukunft verloren gehen ... Ella sah nur noch einen Grund,

über den sie froh sein konnte: sie war alt, sie hatte ihr Leben bald hinter sich. Aber es gab auch einen Grund, warum sie nicht froh sein konnte: sie war alt, hatte aber trotzdem eine unbestimmte Zeit vor sich.

Und wie sollte sie in dieser leben? Wie tilgt man von Null Rücklagen so viele neue Verpflichtungen?#

An jedem Tag sucht Ella wieder und wieder nach einer Antwort - und findet sie nicht.

Stets war ein Rainer-Maria Rilke-Zitat ihr Angelhaken-Freund gewesen: "Es gibt Augenblicke, in denen eine Rose wichtiger als ein Stück Brot ist."

Nun versteht sie den Gehalt dieses Zitates nicht mehr ...


Guten Tag, Gruß Silvia 

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