Der Wunsch meiner Oma
Sie wurde im Jahr 1902 im August geboren. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1986 hat sie rein geschichtlich gesehen durch so manche schwere Zeit gehen müssen:
sie hat als Kind den 1. Weltkrieg erleben müssen und gleich danach musste sie sehen, dass sie die Spanische Grippe überlebte. Wie alle anderen Menschen auf der Welt auch. Später heiratete sie und wurde Mutter von drei Söhnen. Den einen, meinen Vater, musste sie mit 14 Jahren in den Krieg ziehen lassen. Den anderen, den ältesten, verlor sie an den Tod, als dieser 21 Jahre alt war - während der jüngste Sohn die Kriegszeit unversehrt in Baden-Baden verbringen durfte: diese Trennung war das Opfer einer Mutter, die aus Liebe handelte. Denn sie selber lebte in
Dortmund (das unter schwerem Beschuss stand) und sah weder ihren Jüngsten noch meinen Vater für ein paar Jahre. Von meinem Vater wusste sie lange nicht einmal, ob er überhaupt noch lebte, denn er kam in französische Kriegsgefangenschaft.
Als ihr Mann 47 Jahre alt war, starb er.
Irgendwann hatte sie die Hälfte ihrer Familie wieder: den jüngsten Sohn und den mittleren, meinen Vater. Zwei wichtige Menschen fehlten ihr fortan ihr gesamtes restliches Leben lang.
Viel später starb dann mein Bruder mit nur 19 Jahren bei einem Hotelbrand.
Doch der Mensch ist nicht nur leidensfähig, sondern auch überlebensfähig, und fürs Überlebenwollen gibt es immer den einen oder anderen Grund, an dem man sich festklammern kann - und muss.
Einen Grund lieferte ihr mein erster Schrei und ihr Glück darüber, dass ich ein Mädchen war. Nach drei eigenen Söhnen freute sie sich besonders über mich.
Wir beide waren ihr restliches Leben lang innig miteinander verbunden. Sie war meine große Liebe. Und ich ihre.
Ihr größter Wunsch galt mir
Für sich selber hat sie sich nie viel gewünscht, denn in ihren Augen hatte sie alles, was sie brauchte, und in ihrer tiefen Bescheidenheit war mehr als das Nötige nie nötig. Doch sie hatte große Wünsche für mich (und alle Menschen):
Ich sollte nie die Bitterkeit eines Krieges erleben!
Niemand weiß genau, wie viel Leid die beiden Weltkriege über die Menschen gebracht haben, denn vieles haben sie in ihren Seelen auf immer verschlossen gehalten. Meine Oma war nicht der Mensch, der das Grauenhafte auch noch in Worten ausgedrückt hätte. Aber es war ihr größter Wunsch,
dass mir all das, was sie erleben musste, erspart bleibt.
Diesen Wunsch weiß ich erst spät, und zwar jetzt, zu schätzen ...
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