Samstag, 18. Juni 2022

18. Juni 2022 - Kurzgeschichte: Der rettende Koffer



Kurzgeschichte
Der rettende Koffer

Marie hatte seit vielen Wochen extrem schlechte Laune. Sie fühlte Traurigkeit und Wut und schwankte auf allen negativen Gemütslagen hin und her. Hin und her, und ohne Unterlass oder die rettende Idee, wie sie diesem Kreislauf entkommen könnte. Sie hatte es bereits mit einem ausführlichen Shopping-Bummel versucht, aber als ihr die vierte Bluse, die sie gerade kaufen wollte, irgendwie bekannt vorkam, weil sie diese bereits in ihrem Kleiderschrank beherbergte, ließ sie sich in einem Gartenlokal auf einen Stuhl fallen und bestellte Champagner.

Der hatte sich im Glas bereits zu einer lauwarmen Brühe aufgehitzt. Sie blitzte den Kellner gelangweilt wütend an, doch der reagierte überhaupt nicht. Sie packte ihr Smart-Phone aus und strich über die Timeline eines sozialen Netzwerkes. Andere erzählten von ihren Glücksmomenten, die mal größerer mal kleinerer Natur waren. Marie fragte sich zwangsläufig nach ihrem eigenen letzten Glücksmoment - und konnte sich nicht erinnern. Sie fühlte zwar keinen Neid, denn viel empfand sie seit etlichen Wochen ohnehin nicht mehr, also auch nicht solch ein pushendes Gefühl wie Neid - alles langweilte sie eher. Langsam fragte sie sich, ob sie drauf und dran war, in eine Depression zu rutschen - aber andererseits glaubte sie das doch weniger. Sie war einfach nur furchtbar traurig. Und immens unzufrieden.

Zu anderen Zeiten hätte sie die vierte Bluse bedenkenlos gekauft - und hätte sie dann eben doppelt gehabt, und das wäre ein kleiner Grund gewesen, über die eigene Schusseligkeit zu lächeln. Zu anderen Zeiten hätte sie den plörrig-warmen Champagner selbstsicher zurückgehen lassen. Aber Marie empfand nur noch Gleichgültigkeit. Allem gegenüber.

Seit Wochen hatte sie sich nicht bei ihren Freundinnen gemeldet - und deren Anrufe weggedrückt. Für einen plötzlichen Moment wusste sie, warum sie diese Menschen mied: sie waren ebenso oberflächlich wie sie selber, lebten in den Tag hinein und frönten nur ihren Vergnügungen.

Marie hatte mehr Geld geerbt, als sie je ausgeben könnte: zuerst von ihren Eltern, dann von ihrem früh verstorbenen Ehemann. Das immens viele Geld hatte ihren natürlich Ehrgeiz, selber etwas aus ihrem Leben zu machen, stark gebremst. Sie war eine Person, die sich noch nie in ihrem Leben die Hände schmutzig gemacht hatte oder den Kopf vor einer Aufgabe zermartern müssen. Mit einem Male sah sie die Nutzlosigkeit ihrer eigenen Person - und nahm einen Schluck von dem warmen, teuren Zeug. Das hatte sie verdient! Da ging sie jetzt durch. Zwar hatte sie auf Spenden-Galas regemäßig ihr Scheckbuch hervorgezogen - aber nur, um danach ein gutes Gefühl bei erlesenen Speisen und Weinen zu bekommen - Spenden waren eben die Eintrittskarte in die bessere Gesellschaft, in der sie sich bewegte - und die sie am Ende derart traurig machte.


Pläne

Sie bestellte als nächstes ein Bier vom Fass, in der Hoffnung, dass es ebenso bodenständig wie kalt auf den Tisch kam. So war es auch. Sie trank und bestellte ein zweites. Ein wenig besserte sich ihre Laune, aber doch nur geringfügig. Aber ein wenig fühlte sie sich auch wie die anderen Leute, die vor einer Bestellung oder einem Kauf erst einmal nach dem Preis gucken mussten.

Doch das musste sie trotzdem nicht. Das würde sie nie müssen. Leider führte das dazu, dass sie keine Wünsche hatte. Was sollte sie sich auch wünschen, das sie sich nicht sofort hätte erfüllen können?

Sie blinzelte in die Sonne - und konzentrierte sich seit ewigen Zeiten ernsthaft auf ihre Pläne. Welche Pläne? Nun, sie wollte und sollte  einige machen. Vielleicht etwas völlig Simples. Vielleicht etwas Abgedrehtes.

Aber zum Nacktbaden in einem öffentlichen Brunnen war es wohl zu spät - in ihrem Leben.


Am Nebentisch

nahm ein junges Paar mitsamt einem Koffer Platz. Sie bestellten zwei Gläser Wein und sahen den Koffer an, als könnte er die größte Überraschung ihres Lebens beinhalten. Auf einmal war Maries Interesse geweckt. Sie sprachen nicht gerade leise und malten sich aus, dass sich in dem Koffer ein Schatz befinden könnte ... warum wussten sie nicht, was in einem Koffer war, den sie mit sich herumtrugen? Ihre natürliche Neugierde verhalf Marie gerade aus einem sehr tiefen Tal, zwar nicht nachhaltig, aber für den Moment.

Aus ihrem Gespräch erfuhr Marie, dass sie tatsächlich keine Ahnung hatten, was sich in dem Koffer befand. Sie hatten ihn soeben am Flughafen ersteigert. Er gehörte zu den liegengebliebenen Gepäckstücken, nach denen nie jemand, der sie verloren hatte, gefragt hatte.

Marie hatte noch nie von derartigen Versteigerungen gehört. Die jungen Leute erzählten, dass es möglich wäre, dass in dem Gepäckstück nichts als dreckige Wäsche war - oder eben ein ganz großer Wurf, oder ein kleinerer oder ein mittlerer.


Maries Koffer

Bis zur nächsten anberaumten Koffer-Versteigerung vergingen ein paar Wochen. Zwischenzeitlich verwarf Marie diese Idee wieder - denn was sollte es ihr bringen, einen Koffer zu ersteigern, der von anderen Leuten achtlos liegengelassen und nie abgeholt worden war? Trotzdem besserte sich ihre Laune ein klein wenig. Diese Koffer-Sache war so etwas wie ein Plan, der natürlich beim Öffnen des Gepäckstückes zu einem plan- und sinnlosen Etwas werden könnte.

Vielleicht habe ich in meinem Leben alles schon einmal gehabt, alles schon einmal gemacht, dachte sie, und das ist eben etwas Neues. Es ist vermutlich nur eine Kleinigkeit, aber sie hat mir Vorfreude bereitet.

Überdies war es eine witzige Idee. Sie würde den Koffer öffnen und unweigerlich in einem anderen Leben herumwühlen. Leben, die sie jedoch bislang keinen Deut interessiert hatten.

Bei der Versteigerung wartete sie auf den abgerissensten Koffer, der an diesem Tag angeboten wurde. Sie ersteigerte ihn für 50 Euro - obwohl sie auch mehr dafür gegeben hätte. Aber niemand sonst wollte dieses armselige Teil von Koffer, der auch in seinen besten Zeiten kein Schmuckstück gewesen war.

Sie brachte ihre Beute in ihr teures Auto und fuhr damit nach Hause.


Marie zelebrierte

die Kofferöffnung. Sie hatte eine Flasche preiswerten Weins erworben, denn alles andere hätte nicht zu diesem sehr privaten Event und einer erstmaligen Annäherung an das nicht so gute Leben gepasst. Erstaunlicherweise schmeckte ihr der Wein. Sie saß vor dem alten, schäbigen Koffer und reflektierte ehrlich ihr bisheriges Leben:

in dem war nie ein Platz für ein solches Modell gewesen. Seit ihrer Kindheit war sie mit Luxus umgeben, der eine Selbstverständlichkeit war wie die Tatsache, dass man essen und trinken musste. Nur war ihr Essen und waren ihre Getränke immer teurer und exklusiver als die der meisten gewesen.

In ihrer Ehe hatte sich das nicht geändert, denn sie hatte sich stets nach oben und nicht nach unten orientiert. Gefühle waren zweitrangig. Am wichtigsten war ihr stets ein sorgloses bequemes Leben gewesen. Und dann kam die Leere - und sie kam schleichend

und äußerte sich in tiefer Traurigkeit. Alle Leute, die sie kannte, waren ebenso wie sie selber: entweder nur auf Äußerlichkeiten bedacht oder dem Geldvermehren total verfallen. Sie hatten ebenso wenig Spielraum wie sie selber, sie waren gefangen in ihren mit Gold ausgekleideten Käfigen und bemerkten die Gitterstäbe gar nicht mehr.

Aber was sollte solch ein alter Koffer daran ändern? Marie wusste es nicht, aber sie spürte, dass sie erstmals einen Ausflug in eine normale Welt unternahm, die der eigenen fremd war.

Nach dem Genuss einer halben Flasche dieses billigen Weins öffnete sie langsam den Koffer:


Der Inhalt

war nur auf den ersten Blick enttäuschend. Wenige Kinder- und mehr  Frauen-Klamotten waren darin enthalten. Nichts war teuer, und jemand anderer hätte sich über dieses Koffer-"Schnäppchen" vermutlich geärgert, weil er gerne Wertvolles zutage gefördert hätte. Marie ärgerte sich nicht, sondern fühlte das ganz normale Leben anderer in ihren Händen. Die Kinderkleidung war ein wenig fleckig, so als hätte das Kind voller Inbrunst ein Eis geschleckt oder die Majonnaise von ihren Pommes darauf verteilt.

Sie nahm jedes einzelne Stück in die Hand, als sie inmitten der Kleidung auf eine Karte stieß: adressiert war sie an eine Frau namens Mona.

Liebe Mona, ich habe dir die Lieblings-Sachen von Caroline in deinen Koffer geschmuggelt. Weißt du noch, wie sie sich damals, kurz bevor es passierte, vollgesaut hat und uns damit alle zum Lachen gebracht hat. - Ich trauere so sehr mit dir um unsere kleine Caroline. Deine Mama

Marie wurde es heiß und kalt, kalt und wieder heiß. -  Irgendwo da draußen saß eine Mutter, die um ihr kleines Kind weinte - und eine Oma, die das gleiche tat. Und sie, Marie, kannte nun auch die Adresse der Mutter ..., denn sie stand auf dem Zettel.

Sie erkannte schlagartig, wie wenig Grund und Anlass sie hatte, sich traurig zu fühlen. Sie musste nur einen Weg finden, vom eigenen egoistischen Leben in das zu finden, das wirklich wichtig war. Den ersten und wichtigsten Schritt hatte sie bereits getan - indem sie die Oberflächlichkeit ihres Daseins von allein erkannt hatte.

Vielleicht würde sie Mona eines Tages kontaktieren ... aber darüber musste sie sehr, sehr genau nachdenken.

Marie fühlte mit einem Mal gar nicht mehr diese lebensbehindernde Traurigkeit.


ENDE - Copyright Silvia Gehrmann

Guten Tag, Gruß Silvia 


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