Freitag, 22. Mai 2020

22. Mai 2020 - Bienchens Geschichte - 12. Teil


Von Allenstein nach Dortmund

Geboren wurde meine Mutter als Edith Margarete Christel Gehrmann, Rufname Christel, am 4. Februar 1930 in Allenstein/Ostpreußen.  Ich stelle mir vor, wie ihre Eltern und ihre drei Brüder das neu geborene und heiß ersehnte Mädchen staunend begrüßt haben.

Es lebte in einem starken Familienverbund. Leider habe ich keinen einzigen von ihrer Ursprungsfamilie je kennen gelernt. Sie sind allesamt im Krieg "geblieben". Die letzte Nachricht über den Tod ihres Bruders Heinz kam 1976 über das Rote Kreuz. Er war kurz vor Kriegsende gefallen - im doppelten Sinn gefallen in der Brutalität des Krieges, und dem ewigen Gefallen und der tiefen Liebe seiner Schwester, die dies nie verwunden hat.

Als meine Mutter etwa 14 Jahre alt war, drang der 2. Weltkrieg auch in Ostpreußen ein. Zuvor war der Landstrich weitgehend verschont geblieben, aber jetzt wurde die Erde unter den Füßen der Menschen zu heiß. Meine Großmutter packte ihr jüngstes Kind,

und sie flohen auf dramatischen Wegen über die Ostsee nach Dänemark.

Was derweil aus Pünktchen wurde ... entweder habe ich es vergessen, oder meine Mutter hat es mir nie erzählt. Möglich ist es  auch, dass ich nie nach dem Hündchen gefragt habe: Aus Angst vor der Antwort? Aus Sorge? Aus damaliger Gleichgültigkeit? Ich weiß es nicht mehr.

In Dänemark kamen Mutter und Tochter in ein Lager. Darin waren hauptsächlich Frauen, Kinder und alte Männer untergebracht. Die unbeliebten Flüchtlinge wurden nicht gut behandelt

- meine Mutter hat später jahrzehntelang keine Produkte aus Dänemark gekauft,

so tief saß dieses Trauma.

Derart musste meine Mutter bereits als Halbwüchsige, die eigentlich eine "Karriere" als Prinzessin vor sich gehabt hätte, erfahren,

wie bitter das Leben unerwartet zuschlagen kann.

Die miese Behandlung durch die Dänen war allerdings nicht das Schlimmste (verunreinigte Speisen waren u. a. auch an der Tagesordnung), denn schnell breitete sich im Lager Typhus aus.

Auch Christel und ihre Mutter erkrankten daran. Ihre Mutter Alma starb an der Krankheit.

Nach Almas Tod passierten ein paar Dinge, die ich als solche zwischen Himmel und Erde einnordnen muss. Aber ich lasse sie erst einmal  - vielleicht auch für immer - unerwähnt.

Etwas frappierend Ähnliches geschah nach dem  Tod meiner Mutter in 2010 ... ob ich darüber schreibe, weiß ich noch nicht. Vielleicht lasse ich es meine Leser auch zwischen den Zeilen vermuten.

Meine Christel war jahrzehntelang Dauerausscheiderin des Typhus-Erregers und wurde später ständig vom Gesundheitsamt Dortmund kontrolliert. Auch wir als Familie mussten Stuhlproben abgeben -

aber da sie in allem sehr sauber, fürsorglich und vorausschauend war, wurde nie jemand von uns infiziert.

Unterdessen - lange vor meiner Geburt - war ihr Vater und der Mann meiner Großmutter in Norwegen. Dies führte später zu einer großen Irritation meiner tief demokratischen Mutter,

denn er leitete dort eine Fabrik. Irgendwann nach dem Krieg hatte Christel Kontakt zu der norwegischen Sekretärin ihres Vaters. Der dauerte eine lange Zeit und soll sehr herzlich gewesen sein.

Auf die Irritation komme ich später zurück ...

Der Tod ihrer Mutter wurde ihr erst spät, genau eine Woche danach,  mitgeteilt. Denn in der Krankheit hatte man Mutter und Tochter voneinander getrennt.

All dies und das im nächsten Teil Folgende fiel mir in 2010 wieder ein, als ich ihre Malteser-Hündin Bienchen zu mir nahm.

Bienchen war vielleicht Christels letzte Brücke nach Allenstein und zu Pünktchen. Zuvor - in den vielen Jahren nach Pünktchen - hatte sie auch Hunde gehabt, aber immer Pudel.

Es war, als ob sie nicht an Pünktchen erinnert werden wollte und sie sich deshalb nie einen Malteser ins Leben geholt hat - so wie gewisse Ähnlichkeiten  manche Menschen an schlimme Erlebnisse erinnern ... ich weiß es nicht.

Ob Bienchen sie dann doch sehr an Pünktchen erinnert hat? Ob das schmerzlich war?

Man fragt viel zu wenig. Auch ich habe so viele Fragen nicht gestellt. Zu spät, Versäumtes nachzuholen ...

Fortsetzung folgt
Copyright Silvia Gehrmann

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen